UN-BRK-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK)

Deutschland setzt UN-Behinderten­rechtskonvention nicht um

Millionen Menschen mit Behinderung können in Zukunft darauf hoffen, mehr Barrierefreiheit am Arbeitsplatz und bei Alltagsgeschäften verlangen zu können – und zwar unabhängig vom Grad ihrer Behinderung. /ia_64, stockadobecom

Berlin – Bislang gilt ein Anspruch auf Barrierefreiheit nur für schwerbehinderte Menschen, und dies auch nur im Arbeitsleben. Damit setze Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention und geltendes EU-Recht an zentraler Stelle nicht um und riskiere ein Vertragsverletzungverfahren, heißt es in einem aktuellen Rechtsgutachten der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, das heute in Berlin vorgestellt wurde.

Die Empfehlung: Künftig sollen alle behinderten Menschen das Recht erhalten, private Arbeitgeber und Dienstleister auf Schadensersatz wegen einer Diskriminierung verklagen zu können. Nach Auffassung der Antidiskriminierungsstelle muss ein Anspruch auf Barrierefreiheit auch bei Geschäftsräumen, Kinos oder Restaurants möglich sein. Ein Computer mit Brailletastatur am Arbeitsplatz muss ebenso bereitgestellt werden, wie etwa Rampen vor Geschäften.

„Solche angemessenen Vorkehrungen sind kein Nice-to-have, sondern eine gesellschaftliche Verpflichtung“, sagte der kommissarische Leiter der Antidiskrimi­nierungsstelle, Bernhard Franke. Ob am Ende tatsächlich auch jeder kleine Supermarkt oder Kiosk auf Schadensersatz verklagt werden könne, müsse „situationsspezifisch gedeutet“ werden, sagte der Verfasser des Gutachtens, Rechtsprofessor Eberhard Eichenhofer und weiter: „Die Verpflichtung richtet sich vor allem an Großorgani­sationen wie etwa Supermarkt- und Hotelketten, die relevant für die Bedarfsdeckung sind.“

Begriff der „angemessenen Vorkehrungen“ fehlt bisher

Dies ergebe sich rechtlich zwingend aus den Bestimmungen der UN-Behinderten­rechtskonvention und müsse folglich im deutschen Antidiskriminierungsrecht ausdrücklich verankert werden. Der Begriff der „angemessenen Vorkehrungen“ tauche in deutschen Gesetzestexten praktisch nicht auf. Das beanstandete bereits 2015 der UN-Behindertenausschuss anlässlich seiner ersten Überprüfung des deutschen Rechts.

Franke rief den Gesetzgeber dazu auf, nachzubessern und das Recht auf „angemessene Vorkehrungen” künftig ausdrücklich im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) zu verankern. Damit bekämen Betroffene die Möglichkeit, private Arbeitgeber und Dienstleister bei Nichtbereitstellung entsprechender Vorkehrungen auf Schadensersatz verklagen zu können.

„Ein großes Problem liegt darin, dass das deutsche Recht zum Schutze von Menschen mit Behinderungen sich auf die Gruppe von jenen mit schweren Behinderungen beschränkt“, erklärte Eichenhofer. Die UN-Behindertenrechtskonvention hat aber den Schutz aller Menschen mit Behinderung beschlossen. In Deutschland gibt es 7 Millionen schwerbehinderte Menschen und 12 Millionen Menschen mit Behinderung – eine Differenz von 5 Millionen Menschen.

Konkrete Anwendungsbereiche sieht Eichenhofer etwa bei der Schaffung angemessener Vorkehrungen für ältere Menschen am Arbeitsplatz, die Verwendung der Leichten Sprache im Geschäftsverkehr oder in einer erleichterten Inanspruchnahme von Urlaubstagen bei religiösen Feiertagen, beispielsweise am Sabbat. Von einer rechtlichen Basis könnten auch Schwangere und junge Mütter profitieren, sagte Eichenhofer. Die Überwindung von sprachlichen Barrieren könnten ebenfalls gefordert werden.

Zahlreiche Anträge wegen mangelnder Barrierefreiheit in Bundesbehörden

Berlin – Bei der Schlichtungsstelle zur Gleichstellung von Behinderten in Bundesbehörden sind im vergangenen Jahr 146 Beschwerden eingegangen. „Der erste Jahresbericht über die Tätigkeiten der Schlichtungsstelle nach dem Behindertengleichstellungsgesetz für das Jahr 2017 zeigt, dass das Angebot bereits im ersten Jahr rege in Anspruch genommen wurde“, sagte die Behindertenbeauftragte der

Bereits die 2016 von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes vorgelegte Evaluation des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes hatte eine Aufnahme angemessener Vorkehrungen empfohlen. Das nun erstellte Gutachten leite erstmals umfassend juristisch her, weshalb Deutschland geltendes europäisches und internationales Recht nicht ausreichend umsetze, hieß es.

Eichenhofer geht davon aus, dass sich die Bundesregierung gegenwärtig bereits mit der Problematik befasst. „Ich rechne mit dem ersten Gesetzgebungsvorschlag im Jahr 2019, um den UN-Anforderungen zu genügen“, sagte er. Eine andere Baustelle, die ebenfalls die Rechte von Menschen mit Behinderung betrifft, ist das Behinderten­gleich­stellungsgesetz im Sozialgesetzbuch (SGB) 9, das derzeit novelliert wird. Es gilt in erster Linie für Behörden, Körperschaften und Anstalten des Bundes, der private Bereich wurde ausgespart. Die Umsetzung soll im Januar 2020 erfolgen. © gie/kna/aerzteblatt.de

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