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Deutscher Inklusions-Schüler in Kanada – Finnans weiter Weg zum Glück 

Deutscher Inklusions-Schüler in Kanada – Finnans weiter Weg zum Glück 

Kanada ist Deutschland beim Thema Inklusion 30 Jahre voraus. Sonderschulen für Behinderte sind dort längst abgeschafft. Finnan aus München geht seit einem Jahr in Toronto zur Schule. Wie läuft’s?

Finnan Pyrka ist jetzt ein glückliches Kind. Doch dafür musste der Elfjährige um die halbe Welt ziehen: nach Kanada. Seit einem Jahr besucht der behinderte Junge aus München eine Regelschule in Toronto – und macht nun Fortschritte, die seine Mutter zuvor nicht für möglich hielt.

Früher, auf der Grundschule in München, kam sich ihr Sohn wie eine Belastung für die anderen vor, sagt Patricia Pyrka. Finnans Behinderung äußert sich darin, dass er langsamer spricht als andere und Spastiken in den Beinen hat. „Seine Lehrer ließen ihn spüren, dass er ein Störfaktor ist.“ Ob im Unterricht, auf dem Weg zur Turnhalle oder beim Ankleiden nach dem Sport – Finnan brauchte für alles länger. „Das hat dort genervt. Eine Lehrerin hat schließlich zu ihm gesagt, er gehöre auf eine Behindertenschule“, erinnert sich die Mutter.

Schlechte Bedingungen in Deutschland

Seit 2009 gilt in Deutschland das Gesetz, das Menschen mit Behinderung Chancengleichheit auch in der Bildung gewähren soll. Seitdem soll jede Schule dafür sorgen, dass alle Schüler mit oder ohne Handicap am Unterricht teilnehmen können. Doch es hapert an der Umsetzung. Inzwischen wächst die Wut – bei Lehrern, Eltern von gesunden Kindern und Eltern von behinderten Kindern.

Selbst Pädagogen mit guten Absichten scheitern. Das brachte vergangenes Jahr eine Forsa-Umfrage im Auftrag des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE) unter gut 2000 Lehrkräften hervor.

Mehr als die Hälfte der Befragten war prinzipiell für Inklusion in der Schule, kritisierte aber mangelhafte Rahmenbedingungen. Nur 16 Prozent gaben an, dass ihre Schule vollständig barrierefrei sei. Fast zwei Drittel sagten, die Klassen an ihren Schulen würden nicht kleiner, wenn Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf hinzukämen. 65 Prozent der Befragten unterrichteten auch in Inklusionsklassen alleine. 42 Prozent bewerteten die personelle Ausstattung für inklusiven Unterricht mit „mangelhaft“.

Bis zur neunten Klasse lernen alle zusammen

Die von deutschen Lehrern geforderten guten Rahmenbedingungen sind in Kanada längst Wirklichkeit. „Zudem wird die Inklusion dort von Jahr zu Jahr verbessert“, sagt die Erziehungs- und Gesellschaftswissenschaftlerin Petra Milhoffer, die an der Universität Bremen Lehrerinnen und Lehrer ausbildete. Als sie Ende der Neunzigerjahre nach vorbildlichen integrativen Schulsystemen suchte, wurde sie in Kanada fündig. „Die hatten damals bereits ein integratives, ganztägiges Gesamtschulsystem, das bestmöglich ausgestattet und politikübergreifend geregelt war.“

In Kanada sind inklusive Schulen mit barrierefreien Gebäuden seit 1986 Pflicht. „Davor hatten wir Sonderschulen, die sehr teuer waren und in denen die Kinder ihr Potenzial nicht ausschöpfen konnten“, begründet Ingrid Crowther, Hochschulprofessorin für Lehrerausbildung in Toronto, den Systemwechsel. „Die Behinderten konnten nur schwer oder überhaupt nicht in die Gemeinschaft integriert werden. Zudem lernten die anderen Kinder nicht, sich an Kinder mit besonderen Bedürfnissen zu gewöhnen.“

Seit mehr als 30 Jahren lernen nun alle Kinder möglichst in allen Fächern bis zur Klasse neun gemeinsam. Das Miteinander der Schüler ist unabhängig von körperlichem oder geistigem Vermögen „für alle selbstverständlich“, sagt Ingrid Crowther.

Denn in jeder Klasse werden alle Schüler, auch die „students with special needs“, immer von einem Team – Lehrer, Therapeut, Sonderpädagoge – unterrichtet und begleitet. Die sogenannten Educational Assistents helfen den Kindern oder nehmen sie bei Bedarf aus der Gruppe und weichen zweitweise in Extraräume aus, ohne dass der Unterricht unterbrochen oder gestört wird. Ob und wie oft ein solcher Assistent dabei ist, hängt vom individuellen Lehrplan der Schüler ab.

Aus drei Monaten ist ein Jahr geworden

Finnan Pyrka sollte eigentlich nur drei Monate die Schule in Toronto besuchen, weil er für eine Therapie in Kanada war. Doch dort geschah so etwas wie ein Wunder: „Es lief so unerwartet gut. Alles war einfach. Mein Sohn fühlte sich vom ersten Moment an wohl“, erinnert sich seine Mutter. Schließlich entschieden sich die beiden, ganz in Kanada zu leben. Sie verkauften ihre Möbel, lösten den Haushalt auf und zogen nach Toronto. Finnans Vater blieb in München und unterstützt die beiden finanziell.

Finnan geht in eine Learning Disability (LD) Klasse für Schüler mit Lernschwierigkeiten. Er und seine zehn Mitschüler werden von einer Lehrerin und 1,5 Educational Assistents in den naturwissenschaftlichen Fächern unterrichtet. In allen anderen Fächern lernen Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam.

Der Elfjährige spricht inzwischen fließend Englisch, sein Zeugnis war gut. „Hier wird Finnan akzeptiert, wie er ist“, sagt seine Mutter. „Er gehört dazu.“

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