BTHG-BundesTeilHabeGesetz Budget für Arbeit Werkstätten für behinderte Menschen

Bilanz zum Bundesteilhabegesetz – „Ein riesiger Flop“

Bilanz zum Bundesteilhabegesetz – „Ein riesiger Flop“

Behinderte auf dem Arbeitsmarkt zu integrieren, dafür sollte das Bundesteilhabegesetz sorgen. Doch eine erste Bilanz fällt katastrophal aus: Trotz Dumpinglöhnen bleiben die Betroffenen in Werkstätten.

Ein Mitarbeiter in einer Werkstatt für Behinderte in Magdeburg bei der Produktion von Wachskerzen

Peter Förster/ picture-alliance/ DPA

Ein Mitarbeiter in einer Werkstatt für Behinderte in Magdeburg bei der Produktion von Wachskerzen

Mittwoch, 28.08.2019   13:32 Uhr

Lukas Krämer will dazu gehören. „In einer Behindertenwerkstätte bist du doch von der Gesellschaft ausgeschlossen“, sagt der 26-Jährige aus dem Raum Trier. Als Kind erkrankte er an einer Gehirnhautentzündung, ist seither geistig behindert.

Fünf Jahre lang arbeitete der junge Mann, der weder Lesen noch Schreiben kann, deshalb in einer Werkstätte. „Man fühlt sich als Mensch zweiter Klasse“, sagt er über die Zeit in der Einrichtung, in der er etwa Wasserhähne verpackte. Trotz seiner Sprachstörung will Krämer auf dem regulären Arbeitsmarkt arbeiten – „wie auch nichtbehinderte Menschen“.

Krämer hat diverse Stärken, betreibt einen YouTube-Blog und kennt sich mit Videodrehs aus. Auch deshalb hat er mittlerweile einen Teilzeitjob in einem Abgeordnetenbüro gefunden.

Lukas Krämer

Lukas Krämer

Lukas Krämer

Damit hatte Lukas Krämer riesiges Glück. Denn der Sprung aus einer Werkstätte in die richtige Arbeitswelt ist für Behinderte extrem schwierig. Und das, obwohl sich die Bundesrepublik mit der 2009 in Kraft getretenen Uno-Behindertenrechtskonvention eigentlich verpflichtet hatte, Menschen mit Handicap auf dem regulären Arbeitsmarkt zu integrieren.

Ginge es nach den Vereinten Nationen, gäbe es die Werkstätten nicht mehr. Doch die Zahl der Einrichtungen, in denen selbst Behinderte mit überdurchschnittlicher Intelligenz außer Sichtweite der Mehrheitsgesellschaft Briefe frankieren oder in der Wäscherei schuften, stieg in den vergangenen Jahren sogar noch.

Das vom Bundestag finanzierte Institut für Menschenrechte kritisiert, dass derzeit rund 300.000 Behinderte in Werkstätten für ein Taschengeld arbeiten. Viele bekommen weniger als 200 Euro Monatslohn. Das Institut, das die Umsetzung der Uno-Konvention überwacht, spricht von „Ausgrenzung“.

Die Bundesregierung blieb lange untätig, erst Ende 2016 wurde das Bundesteilhabegesetz verabschiedet. Ein wesentlicher Bestandteil ist das Budget für Arbeit: Arbeitgeber, die Behinderte einstellen, können sich so seit Januar 2018 einen großen Teil des Gehalts erstatten lassen. „Durch das Budget für Arbeit verbessern wir die Chancen von Menschen mit Behinderungen auf dem Arbeitsmarkt“, versprach Kanzlerin Angela Merkel.

Klägliche Bilanz vieler Bundesländer

Doch das bleibt bislang offenbar Wunschdenken. Eine SPIEGEL-Umfrage unter sämtlichen Landesregierungen ergab, dass das Budget seit seiner flächendeckenden Einführung nur in geringem Umfang in Anspruch genommen wurde.

Demnach schafften seit Januar 2018 wohl nur einige Hundert Behinderte den Sprung aus der Werkstatt in die freie Wirtschaft. Von Januar 2018 bis Juli dieses Jahres wurde in Baden-Württemberg (drei), Saarland (sechs) und Brandenburg(acht) jeweils eine einstellige Zahl solcher Budgets zur Unterstützung bewilligt. Selbst im rot-rot-grünen Berlin waren es bis Ende Juni 2019 gerade einmal vier und in Sachsen sogar nur eines.

In Bremen bewilligten die Behörden bislang 16, in Sachsen-Anhalt 31 und in Mecklenburg-Vorpommern 14 Budgets. In Thüringen waren es bis Anfang Juni exakt 17. Selbst in Bayern, wo es besonders viele freie Stellen gibt, genehmigte man bisher gerade einmal 19 Zuschüsse. Dabei hat die dortige Staatsregierung sogar noch extra Mittel bewilligt.

Denn bundesweit können Arbeitgeber sich bis zu drei Viertel des Gehalts erstatten lassen – der Zuschuss ist derzeit jedoch auf rund 1200 Euro pro Monat gedeckelt. Einzelne Bundesländer haben diesen Betrag aber erhöht, der Freistaat um ein Fünftel. Dennoch werden dort bislang wie auch anderswo fast keine Anträge gestellt, weshalb auch nur sehr wenige genehmigt werden konnten.

In Niedersachsen, wo die Landesregierung vielen einstellungswilligen Arbeitgebern noch einmal 250 Euro pro Monat extra spendiert, gab es seit Ende 2017 rund hundert neu bewilligte Budgets für Arbeit. Das Land hatte das Budget lange vor dem Bund eingeführt und intensiv dafür geworben. In Nordrhein-Westfalen existiert eine solche Regelung sogar bereits seit gut einem Jahrzehnt – 2018 bewilligten die Behörden dort 231 Zuschüsse.

Aus Hessen liegen nur für das vergangene Jahr (27 bewilligte Budgets), aus Schleswig-Holstein gar keine Zahlen vor. Hamburg führte das Budget bereits 2012 ein. Im Schnitt bewilligten die Behörden der Hansestadt seither etwas mehr als 30 Anträge pro Jahr. Aktuelle Zahlen hat man dort allerdings nicht, ebenso wenig in Rheinland-Pfalz. Dort gibt es das Budget flächendeckend seit 2007. Seither wurden insgesamt über 400 solcher Maßnahmen bewilligt. Das Bundesland zahlt mit fast 1870 Euro einen maximalen Zuschuss, der so hoch ist wie nirgendwo anders in der Republik.

Mehr zum Thema bei SPIEGEL+

Manchem gilt Rheinland-Pfalz deshalb als Vorbild bei der Inklusion auf dem Arbeitsmarkt. Doch rechnet man die im Vergleich zu anderen Ländern dort guten Zahlen auf den Bund hoch, würde es dennoch Jahrzehnte dauern, bis die Zahl der Beschäftigten in Werkstätten nennenswert abgesenkt wäre.

Für Oswald Utz, Behindertenbeauftragter der Stadt München, ist das Budget für Arbeit deshalb „ein riesiger Flop“. Die Maßnahme sei ungeeignet für die Inklusion. Corinna Rüffer, behindertenpolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, kritisiert, das Budget sei in der von der Bundesregierung umgesetzten Form „ein einziges Sparpaket“, geprägt durch „handwerkliche Fehler“. Die Situation bei der Integration von Behinderten auf dem Arbeitsmarkt beurteilt sie angesichts der Zahlen als „dramatisch“.

Doch wo liegen die Ursachen für die Misere? Mehrere Landesregierungen und Behindertenvertreter berichten, viele Werkstattbeschäftigte fürchteten bei einem Wechsel in die freie Wirtschaft Nachteile bei der Rente. Denn für Mitarbeiter von Werkstätten werden Beiträge in die Rentenkasse gezahlt, die sich an rund 80 Prozent des deutschen Durchschnittseinkommens bemessen. Auch können Betroffene nach 20 Jahren in der Einrichtung das volle Ruhegeld beziehen. Mit Beginn einer Beschäftigung im Rahmen des Budgets für Arbeit sei dies nicht mehr der Fall, erklärt ein Sprecher des CSU-geführten bayerischen Sozialministeriums.

Baden-Württembergs grün regiertes Sozialministerium kritisiert, dass die Bezieher des Budgets für Arbeit nicht arbeitslosenversichert sind. Durch ein eigenes Landesprogramm mit voller Arbeitslosenversicherung konnte man im Südwesten seit Anfang 2018 gut hundert Menschen aus Werkstätten in reguläre Betriebe vermitteln.

„Funktioniert in der Praxis nicht“

Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbands VdK, sagt: „Das Budget für Arbeit funktioniert in der Praxis nicht.“ Ein Problem sei, dass nur die wenigsten Werkstätten Menschen mit Behinderung rieten, das Budget zu beantragen. „Denn diese Mitarbeiter gehen ja dann der Werkstatt verloren.“

Ähnliches berichtet Grünenpolitikerin Corinna Rüffer. So würden Betroffene etwa nicht informiert, dass es beim Budget bei Arbeit ein Rückkehrrecht in die Werkstätte gebe. Sie geht davon aus, dass bei den Beratungen durch die Werkstätten die Angst vor dem Verlust von Rentenansprüchen geschürt werde. Tatsächlich sei das Wegfallen der Bevorzugung bei der Rente nicht das entscheidende Problem. Rüffer verweist darauf, dass auch viele Werkstattmitarbeiter im Ruhestand mit Renten von aktuell 800 bis 900 Euro auf Grundsicherung angewiesen sind.

Zur Umsetzung der Uno-Behindertenrechtskonvention wäre es laut Verena Bentele sinnvoll, statt Mittel in das Budget für Arbeit zu stecken, „mehr Geld in ein besseres Coaching und eine bessere Betreuung von Menschen mit Behinderung am Arbeitsplatz zu investieren“. Behindertenvertreter Utz setzt auf Zwang. Die vielen größeren Unternehmen, die keine Behinderten einstellen, sollten künftig eine weit höhere Abgabe zahlen als heute.

Das Arbeitsministerium prüft – vier Jahre

Ein Sprecher des Deutschen Instituts für Menschrechte sagt: „Angesichts dieser ernüchternden Zahlen müssen die Rahmenbedingungen für das Budget für Arbeit dringend geprüft und nachjustiert werden.“ Doch bis das passiert, kann es dauern. Auf die Frage, ob es beim Budget für Arbeit Nachbesserungen geben soll, verwies ein Sprecher des SPD-geführten Bundesarbeitsministeriums auf Forderungen des Bundestags, das Entlohnungssystem der Werkstätten insgesamt neu zu organisieren. Innerhalb der kommenden vier Jahre solle geprüft werden, wie ein „zukunftsfähiges Entgeltsystem entwickelt werden kann“.

Manche wie Corinna Rüffer kritisieren auch die Bürokratie bei der Bewilligung des Budgets. Die Grünenpolitikerin weiß, wovon sie spricht. Denn es ist ihr Abgeordnetenbüro, in dem Lukas Krämer eine Chance bekommen hat – einstweilen als geringfügig Beschäftigter, doch sie würde ihn gerne mehr beschäftigen.

Krämer hat deshalb bereits im Januar einen entsprechenden Antrag auf das Budget für Arbeit gestellt. Doch das Amt stellt sich laut Rüffer quer und verlangte, dass Krämer weiterhin wie ein Werkstattmitarbeiter bezahlt wird.

Die Gleichberechtigung, die Lukas Krämer sich wünscht, sieht anders aus.

Einen Kommentar schreiben