Tourismus: “Fragen zu Barrierefreiheit und Teilhabe sind allgegenwärtig”

02.09.2019
Ob Reiseanbieter, barrierefreie Wohnmobile oder spezielle Hilfsmittel für unterwegs – Reisen und Tourismus sind in jedem Jahr ein beliebtes Thema in den Düsseldorfer Messehallen. Auf der diesjährigen REHACARE wird das Angebot der Aussteller noch um eine vielseitige Veranstaltung im TREFFPUNKT REHACARE ergänzt: Neuigkeiten aus dem barrierefreien Tourismus.
Auf der REHACARE wird Julia Marmulla auch einige Exemplare ihres Reisemagazins dabeihaben.
Im Interview mit REHACARE.de gibt Tourismusberaterin Julia Marmulla Einblick in ihre Arbeit und schildert ihre Beobachtungen in der Branche.
Frau Marmulla, welche Erfahrungen haben Sie im Themengebiet “barrierefreies Reisen” bisher gemacht?
Julia Marmulla: Bereits in meinem Studium der Politikwissenschaft habe ich mich den Themenfeldern der Inklusion, der UN-Behindertenrechtskonvention, deren Ratifizierung zu dem Zeitpunkt brandaktuell war, und der Barrierefreiheit in Entwicklungsländern gewidmet. In meinem beruflichen Werdegang im Tourismus habe ich viele verschiedene Stationen absolviert und immer wieder Berührungspunkte zum Themenfeld des barrierefreien Reisens gehabt.
Meine Erfahrung ist, dass fast jeder, der im Tourismus arbeitet, mit Fragen zur Barrierefreiheit und Teilhabe konfrontiert wird.
Bevor ich mich selbstständig gemacht habe, habe ich die Geschäftsstelle des Vereins “Tourismus für Alle Deutschland e.V.” (NatKo) geleitet. Der Verein wurde von verschiedenen Behindertenverbänden getragen, mittlerweile hat er sich jedoch aufgelöst. Die NatKo verfolgte das Ziel – im Dialog mit der Tourismuswirtschaft und -politik – die Barrierefreiheit im allgemeinen Tourismus zu stärken. Ein Hauptaugenmerk war dabei das Zertifizierungssystem “Reisen für Alle”, an dessen Entwicklung die NatKo maßgeblich beteiligt war.
Seitdem ich selbstständig bin, berate ich Touristiker (Destinationen, Hotels, Museen, Veranstalter) und gebe ein Reisemagazin mit dem Namen .Meine Reisewelt. einzigartig – komfortabel – barrierefrei heraus.
Welche Ziele verfolgen Sie mit Ihrer Beratung und dem Reisemagazin?
Marmulla: In der Beratung richtet sich die Zielsetzung nach den Aufgabenstellungen der Auftraggeber (beispielsweise Hotels oder Destinations-Management-Organisationen). Die Aufgaben sind ganz unterschiedlich. Unter anderem geht es darum, Potenziale von Reisezielen im Bereich des barrierefreien Tourismus zu erkennen und Empfehlungen zu formulieren, wie diese Potenziale genutzt werden können. So entsteht mehr Barrierefreiheit vor Ort – davon profitieren Reisende, aber auch touristische Unternehmen.
Mit dem Reisemagazin verfolge ich das ganz klare Ziel, vor allem Rollstuhlfahrer*innen, sehbehinderten und blinden Menschen eine Kombination aus Reise-Inspirationen und nützlichen Hinweisen zur Barrierefreiheit vor Ort zu bieten. Die meisten Artikel informieren über zweierlei Aspekte: Zum einen wird – ähnlich wie in jedem anderen Reisemagazin – das Reiseziel geschildert und zum anderen wird der Status der Barrierefreiheit beschrieben und weiterführende Informationen verlinkt. Für manche Menschen, die vielleicht erst vor kurzer Zeit mit einer Behinderung leben, soll das Magazin auch als Mutmacher dienen, indem es zeigt, was und wie – in der vielleicht noch ungewohnten Lebenslage – erlebt werden kann.
Julia Marmulla (3. von links) war zusammen mit Aktivistin Laura Gehlhaar auf Blogger-Reise in Erfurt und Weimar.
Inwiefern arbeiten Sie für beide Angebote auch direkt mit Menschen mit Behinderung zusammen?
Marmulla: Der Austausch mit Menschen mit Behinderungen, Aktivist*innen und Vertreter*innen ist mir sehr wichtig. Für die März- und September-Ausgaben (2019) des Reisemagazins haben drei Autor*innen, die einen Rollstuhl nutzen, über ihre Reise-Erfahrungen und -empfehlungen in und für Graz, Amsterdam, Bali und Ghana geschrieben. Ein weiteres Beispiel sind die Interviews, die ich mit dem Gründer von roomchooser und dem Behindertenbeauftragten von New York City geführt habe – beide sind Rollstuhlfahrer. Mittelfristig möchte ich übrigens noch mehr Menschen mit Behinderung als Autor*innen gewinnen.
Des Weiteren gibt es in der September-Ausgabe des Magazins einen langen Artikel über Erfurt und Weimar. Dort habe ich mit der Bloggerin und Aktivistin Laura Gehlhaar recherchiert. Das war natürlich ganz toll, da ich sicher sein kann: Wenn ein Reiseziel für Laura “funktioniert”, wird es für viele weitere Rollstuhlfahrer*innen (nicht für alle, ich weiß) ebenso funktionieren. Erfurt und Weimar sind wunderbare Städte und die Auseinandersetzung mit dem Bauhaus-Jubiläum war ein aktueller Reiseanlass. Im Magazin beschreibe ich, was wir erlebt haben. Zusätzlich dienen zwei Seiten mit Hinweisen als Hilfestellung, eine solche Reise selbst zu planen.
Jeder Austausch, jedes Erlebnis spiegelt sich auch in den Beratungen wider. Bei meiner Arbeit lege ich Wert darauf, folgende Anforderungen gleichermaßen zu berücksichtigen: Anforderungen aus den DIN-Normen zum barrierefreien Bauen und Anforderungen, die direkt von Menschen mit Behinderung geäußert werden. Das ist, meiner Meinung nach, die optimale Mischung bei den Beratungsdienstleistungen.
Welche Entwicklungen in Sachen “barrierefreier Tourismus” konnten Sie in den letzten Jahren beobachten?
Marmulla: Das ist eine sehr schwierige Frage, auf die man eine seitenlange Antwort geben müsste – die Welt ist nicht schwarz-weiß. Ich werde allerdings nur ein paar ausgewählte Aspekte benennen können.
Meiner Einschätzung nach hat sich in den letzten Jahren im allgemeinen Tourismus für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen sowie für taube und hörbeeinträchtigte Menschen so gut wie nichts getan. Das hat viele und sehr unterschiedliche Gründe.
Für sehbehinderte und blinde Menschen tut sich vor allem im musealen und kulturellen Bereich etwas, gleichwohl wir auch hier von einer umfänglichen Barrierefreiheit – in der blinde und sehbehinderte Menschen wirklich alleine und ohne fremde Hilfe zurechtkommen, wie es von vielen Verbänden gefordert wird – noch weit entfernt sind. Ich denke, wir brauchen einen breiteren Diskurs darüber, wo und wie Barrierefreiheit gerade für (und mit) blinden und sehbehinderten Menschen geschaffen werden sollte. Das Ziel soll sein, die Situation der Menschen zu verbessern, vielleicht auch durch mehr (digitale) Assistenzdienstleistungen. Oft werden beispielsweise von Verbänden taktile Leitsysteme im Inneren von Einrichtungen gefordert. Jedoch werden diese Orte – zum Beispiel ein Museum oder Hotel – von Besucher*innen nur einmal im Leben oder vielleicht maximal einmal im Jahr besucht. Ob das dann wirklich Sinn macht? Ich habe meine Zweifel. Allerdings machen Tast-Stationen, an denen sich viele Menschen erfreuen und die auch und insbesondere für blinde und sehbehinderte Menschen funktionieren, (immer) großen Sinn. Ich bin der Überzeugung, dass wir einen ehrlicheren Diskurs führen müssen, der sich mehr an den Lebensrealitäten der Menschen und an manchen Stellen weniger an den Maximalforderungen Einzelner orientiert.
Bei den Destinations-Management-Organisationen – also Institutionen, die im Reiseziel Synergien herstellen, bündeln und oft auch Vordenker vor Ort sind – ist in den letzten Jahren ganz allgemein eine Professionalisierung zu beobachten. Dazu gehört auch immer wieder die Auseinandersetzung mit dem Thema Barrierefreiheit. Diese findet oft im Rahmen von geförderten Projekten statt. Wie bei vielen anderen Themen auch, werden Mitarbeiter, die sich um das Thema Barrierefreiheit kümmern, nicht innerhalb von Stabsstellen, sondern im Rahmen von Förderprojekten beschäftigt. Diese Projektförderung hat – meiner Einschätzung nach – in den letzten Jahren befriedigende Ergebnisse (Note 3) produziert. Das könnte jedoch besser sein!
Wenn wir auf die Ebene der touristischen Leistungsträger schauen, müssen die größeren Hotelneubauten mittlerweile mindestens ein bis zwei rollstuhlgerechte und umfänglich barrierefreie Zimmer bauen. Ich glaube, ich war noch nie in einem Zimmer, wo ich nicht auf Anhieb gedacht habe, dies oder jenes hätte man ohne wesentlichen finanziellen Mehraufwand besser machen können. Aber immerhin entstehen ganz gute rollstuhlgerechte Zimmer. Hier tritt dann allerdings das nächste Problem auf: Es wird unzureichend kommuniziert, dass es solche Zimmer gibt. Das führt dazu, dass Menschen mit Mobilitätseinschränkungen weiterhin nach Zimmern suchen und viele Hotels eine schlechte Auslastung der barrierefreien Zimmer haben. Paradox, oder?Bei vielen Bestandshotels ist die Situation baulich recht desolat und das wirkliche Interesse an Barrierefreiheit nur punktuell vorhanden. Man trifft aber – und das ist die andere positive Seite der Medaille – auch immer wieder auf sehr engagierte Hoteliers und Touristiker. Das möchte ich auch ganz ausdrücklich sagen!
Eine der systematischsten Verbesserungen bei Unterkünften in den letzten Jahren finden sich übrigens in Jugendherbergen. Schaut man sich beispielsweise die neuen Jugendherbergen in Bayreuth und Schweinfurt an – und nach dem Hörensagen auch die am Berliner Ostbahnhof –, muss man einfach festhalten: Hier wurde vieles richtig gemacht! Die Jugendherberge Bayreuth habe ich übrigens in der September-Ausgabe des Reisemagazins porträtiert.
Da Sie nach den Veränderungen der letzten Jahre gefragt haben, darf “Reisen für Alle” nicht unerwähnt bleiben. Seit circa zehn Jahren arbeitet man an diesem System. Und so langsam ist das System bei Tourismusunternehmen doch ganz gut bekannt, und trotzdem lassen sich nur wenige zertifizieren. Bei potenziellen Reisenden ist das System noch nicht besonders präsent.
Ob innerhalb von Deutschland oder weltweit – barrierefreies Reisen ist für viele Menschen mit Behinderung ein relevantes Thema.
Welche Trends in Sachen “barrierefreies Reisen / barrierefreier Tourismus” sehen Sie für die kommenden Jahre?
Marmulla: Insgesamt bin ich optimistisch, dass sich die Situation für Rollstuhlnutzer*innen und Senior*innen peu à peu verbessern wird. Und auch für blinde und sehbehinderte Menschen sehe ich zumindest punktuell rein bauliche Verbesserungen kommen. Das Fass der digitalen Barrierefreiheit möchte ich an dieser Stelle nicht aufmachen – das wäre zu weitreichend.
Da keine institutionelle Förderung für den barrierefreien Tourismus in Sicht ist, denke ich: Es ist wichtig, dass auch künftige Projektfördermittel für das Thema zur Verfügung gestellt werden, um weitere “Leuchttürme” – wie man in der Projektmittelakquise immer schreibt – zu fördern.
Beim Zertifizierungssystem “Reisen für Alle” bin ich selbst gespannt, wie es weitergeht. Mit politischem Willen könnte das System in recht kurzer Zeit von maximal drei Jahren sehr gut ausgebaut werden. Dann würde man die letzten zehn Jahre als Pilotphase betrachten. Wenn es aber so weiterläuft wie bislang, wird das System weiterhin vor sich hindümpeln. Was besser ist als nichts, aber eben nicht genug.
Zu dem, was ich direkt beeinflussen kann, möchte ich sagen: Mein Ziel ist, mit dem Reisemagazin möglichst viele Leser zu erreichen und zweimal im Jahr einen qualifizierten und spannenden Einblick in Reisemöglichkeiten zu geben.

REHACARE.de