
GELDERN | Sieben Worte bringen Jackeliens Welt ins Wanken. „Es ist völlig okay, wie Sie sind“, sagt die Frau, die vor ihr sitzt. Jackelien fängt an zu weinen, hört nicht mehr auf. Dass es okay ist, wie sie ist, hat in ihrem 18-jährigen Leben noch niemand zu ihr gesagt. So gefühlt hat sie sich auch noch nie.
Jackelien ist heute Jonas. Er ist 23 Jahre alt, Fachkraft für Lagerlogistik, lebt in Geldern. Die Frau, die vor Jackelien saß, war eine Psychotherapeutin, der Termin in der Praxis markierte die erste Etappe auf einem langen Weg, an dessen Ende stehen soll, dass Körper und Gefühl endlich zusammenpassen. In drei Jahren, hofft Jonas, ist es so weit. Viel Zeit, aber wenig im Vergleich zu den Jahren, die Jonas als Jackelien leben musste. Jetzt erzählt er seine Geschichte. Er will Menschen Mut machen, denen es geht wie ihm.
Dass irgendwas mit ihr anders ist, merkt Jackelien schon im Kindergarten. Sie hört nicht auf ihren Namen, sie will nicht die Mädchen-Toilette benutzen, sie hat keine Lust auf die Spiele, die man Mädchen zuschreibt, und auch nicht auf weibliche Kleidung. Sie wird gehänselt – im Kindergarten, in der Grundschule, auf der Realschule. Ihre Haare lässt sie zwar lang wachsen, aber mehr, weil sie das Gefühl hat, ihr Umfeld erwartet das, nicht, weil sie es will. Was genau anders ist, weiß Jackelien lange nicht, sie weiß nur, dass sie sich immer falsch fühlt. Wie ein Mängelexemplar, bei dem man den Mangel einfach nicht findet.
Jackelien ist zwölf, als sie eine Dokumentation über Transsexualität im Fernsehen sieht. Es ist, als beschrieben die Protagonisten ihr Leben, als beschrieben sie, wie Jackelien sich von klein auf fühlt. Die Zwölfjährige fängt an, im Internet zu recherchieren. Je mehr sie liest, desto sicherer ist sie: Sie ist transsexuell. Laut offizieller Definition ist Transsexualität eine Geschlechtsidentitätsstörung, auch Geschlechtsdysphorie genannt. Sie liegt vor, wenn sich ein Mensch konstant und dauerhaft psychisch vollständig mit dem Gegengeschlecht identifiziert. Gesicherte Zahlen dazu, wie viele Menschen transsexuell sind, gibt es zwar nicht, laut der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität sind aber 0,25 Prozent aller geborenen Kinder trans.
Das Gefühl hat jetzt zwar einen Namen, leichter macht es das aber nicht. Jackelien kommt in die Pubertät, ihre Brüste fangen an zu wachsen, sie bekommt ihre Tage. Der Körper, der ihrer ist und gleichzeitig doch nicht, beginnt, immer weiblicher zu werden. Jackelien wird als Mannweib beschimpft, als Kampflesbe, ihre Mitschüler lassen sie spüren, dass sie anders ist. Allein ist Jackelien damit nicht: Laut einer Studie des Deutschen Jugendinstituts von 2015 gab knapp die Hälfte der befragten Trans-Jugendlichen an, an Bildungs- und Arbeitsorten beschimpft, beleidigt oder lächerlich gemacht worden zu sein. Rund zehn Prozent wurden sogar körperlich attackiert.
Die Pubertät, die Identitätssuche, ist für fast jeden anstrengend und schlimm, für Jackelien ist sie der blanke Horror. „Ich bin praktisch gestorben“, sagt Jonas heute. Sie probiert, mit einem Jungen zusammen zu sein, und das fühlt sich falsch an. Sie überlegt, ob sie vielleicht doch lesbisch ist, und auch diese Kategorie ist nicht ihre. Sie ist sich jetzt ganz sicher: Dieser Körper ist nicht meiner. Jackelien kämpft gegen ihn an, sie isst immer weniger, hungert sich bis auf 35 Kilogramm bei einer Größe von 1,60 Meter herunter. Bloß alles Weibliche loswerden, das will sie. Mehrfach wird sie künstlich ernährt.
Irgendwann ist der Druck zu groß. Jackelien vertraut sich Menschen an, outet sich. Freunde akzeptieren sie, andere in ihrem Umfeld aber glauben ihr nicht, halten das Ganze für eine Phase, nehmen nicht ernst, was sie sagt. Aber Jackelien macht sich dennoch auf den Weg, bekommt vom Frauenarzt Hormonblocker verschrieben, um zu verhindern, dass ihr Körper immer weiblicher wird. Sie trägt einen Abbinder, damit das bisschen Brust, das da ist, praktisch nicht mehr zu sehen ist, und darüber immer ein Extra-Shirt. Einfach so ins Freibad zu gehen, ist undenkbar. „Was sollte ich denn anziehen: einen Bikini? Badeshorts?“ Beides ist für sie keine Option. Also geht Jackelien nicht. Kleine Fortschritte gibt es dennoch: Mit 16 lässt sich Jackelien die langen, dunklen Haare abschneiden. „Sicher?“, fragt die Frisörin, als sie schon mit der Schere hinter ihr steht. „Sicher“, sagt Jackelien. Sie fühlt sich, „als hätte ich ein neues Stück Freiheit gewonnen, ein Stück von mir selbst“. Der Blick in den Spiegel tut ab diesem Zeitpunkt ein kleines bisschen weniger weh, erzählt er.
Wenn Jonas heute überlegt, was er sich in dieser Zeit gewünscht hätte, sagt er: „Mehr Unterstützung, mehr Interesse, mehr Offenheit, auch von meinen Eltern.“ Ein schlichtes „Egal, was ist, wir lieben dich.“ Jackelien fehlt die Gewissheit, dass sie als Mensch liebenswert ist – unabhängig davon, welche geschlechtliche Identität sie hat. Zuhause geht es irgendwann nicht mehr, Jackelien entschließt sich, auszuziehen. Vier Jahre lang lebt sie in Heimen, muss immer wieder neu anfangen, sich erklären, sich wehren, sich häufig auch verstecken und für sich entschuldigen. Ihre Leistungen in der Schule waren nie gut, sie ist aufsässig. Bis sie 18 Jahre alt ist, wird sie in 16 Heimen gelebt haben.
Beschimpft, angezweifelt, klein geredet und reduziert zu werden, ist mittlerweile zu Jackeliens Normalität geworden. Sie wird misstrauisch, zynisch, ihr Vertrauen in Menschen ist weg, sie hat Depressionen, versucht bis heute vier Mal, sich das Leben zu nehmen. Mit Überzeugung sagen, dass es gut ist, dass kein Versuch glückte, kann Jonas noch heute nicht. Aus dem dunklen Tal ist er noch nicht heraus, aber er sieht ein paar Sonnenstrahlen.
Mit dem 18. Geburtstag sucht sich Jackelien eine Therapeutin, ist fest entschlossen zu kämpfen. Und das muss sie: Wer eine geschlechtsangleichende Operation möchte, muss sich durch Formalitäten, Anträge und Befragungen arbeiten. Die Hürden sind hoch, Jonas findet das hart, aber richtig. Wer sich Gebärmutter, Eierstöcke und Eileiter hat entfernen lassen, kann das nicht wieder umkehren und sie wieder hineinoperieren.
Mindestens anderthalb Jahre Therapie, zwei unabhängige Gutachten, die der Person Transsexualität bescheinigen, eine mindestens halbjährige Hormontherapie und ein einjähriger Alltagstest, in dem „sich der Betreffende vorerst ohne jegliche medizinische oder juristische Maßnahmen ganz im ,neuen’ Geschlecht bewegt, um festzustellen, ob sich seine Erwartungen erfüllen (können) bzw. um diese zu korrigieren“, wie es offiziell heißt. Erst danach und erst, wenn die Krankenkasse die Kostenübernahme zugesichert hat, kann mit den Operationen begonnen werden.
„Das ist kein Spaziergang, man muss sich der Risiken sehr bewusst sein“, sagt Jonas. Er kennt alle medizinischen Fachbegriffe und das Procedere der Operationen, weiß, dass es sein kann, dass der Penis, der in der großen OP aufgebaut wird, kein Gefühl hat und dass sich Narbengewebe entzünden kann. Seine Entscheidung stellt er dennoch nicht in Frage. 2016, Jackelien ist 20 Jahre alt, stellt sie den Antrag für die Vornamen- und Personenstandsänderung. Ein Jahr später und rund zwei Wochen nach ihrem 21. Geburtstag wird die Änderung rechtskräftig. Aus Jackelien ist am 3. Juni 2017 jetzt auch für die Ämter Jonas geworden. „Das war das schönste Geburtstagsgeschenk, das ich je bekommen habe“, sagt er.
Ende Juli beginnt seine Hormontherapie, er bekommt in regelmäßigen Abständen Spritzen: Die Stimme wird etwa vier Wochen nach der ersten Spritze tiefer, ein paar Barthaare wachsen. Jonas feiert jedes einzelne. Die notwendige Begleittherapie hat er abgeschlossen, die Kasse hat OP eins bewilligt. Am 22. Mai 2018 wird in einem Düsseldorfer Krankenhaus die Brust entfernt. Jonas kann sein Glück kaum fassen, schöpft Hoffnung, weil es vorangeht. Immerhin bauchaufwärts guckt er sich jetzt gern im Spiegel an. Ein Schritt nach dem anderen, auch wenn Jonas verdammt ungeduldig ist. „Würde ich im Lotto gewinnen, würde ich in die Klinik fahren, die 734.000 Euro auf den Tisch legen und sagen: macht.“ So geht es nur in Trippelschritten vorwärts.
Aber es geht vorwärts. Etwas mehr als neun Monate später, im März 2019, werden Gebärmutter, Eierstöcke und Eileiter entfernt. Die irreversible Operation. Jonas wird an einem Freitagmorgen operiert, am Abend hat er derartige Schmerzen, dass er für den Bruchteil einer Sekunde überlegt, ob es die falsche Entscheidung war. Dann fängt er sich wieder ein, sagt sich, dass diese Schmerzen ein Witz verglichen mit der Freude sind, irgendwann im richtigen Körper zu leben. Er weiß, dass er nie wieder zurück wollen wird. „Ich bin jetzt 4,5 Kilo leichter und vorübergehend eierlos“, sagt Jonas und lacht.
Sechs Operationen liegen noch vor ihm. Die erste ist vergleichsweise klein – seine Brust muss noch mal korrigiert werden. Der Termin sollte jetzt im Juni sein, wurde aber verschoben. „Für das Krankenhaus ist das nur eine normale Terminverschiebung – für mich ist jede Verzögerung eine Katastrophe“, sagt Jonas. Jeder Tag, der zwischen ihm und seinem echten Körper liegt, ist quälend. Wenn die Brust korrigiert ist, wird es heftig. Bei der Kolpektomie wird die Scheidenhaut entfernt und die Scheide verschlossen. Dann wird der sogenannte Klitpen aufgebaut: Die Klitoris wird dazu gestreckt, die Harnröhre aus den kleinen Schamlippen von der weiblichen Harnröhrenöffnung bis zur Klitorisspitze verlängert. Jonas hat einen Mini-Penis von einigen Zentimetern Länge, kann dann im Stehen pinkeln.
Es gibt Transmänner, die an dieser Stelle aufhören – Jonas will weitermachen, er will den großen Aufbau. Aus körpereigenem Gewebe, Haut aus Jonas’ Unterarm wird ein künstlicher Penis inklusive neuer Harnröhre gemacht. Im nächsten Schritt werden die Eichel nachgebildet und die Harnröhre angeschlossen, dann – eine weitere OP – werden Hoden und Hodensack aufgebaut. Jonas kann wählen zwischen einer Penispumpe und Stäbchen, die in den Penis eingesetzt werden. Er glaubt, er wird die Stäbchen wählen: Will er Sex haben, klappt er den Penis einfach hoch.
Wenn Jonas von den Operationen erzählt, die noch vor ihm liegen, lächelt er. Das ist die Vorfreude, sagt er. Darauf, mit sich im Reinen zu sein, sich nicht mehr vor sich selbst zu ekeln, sich selbst zu erkennen, wenn er in den Spiegel schaut. Natürlich, er hat Respekt vor den Eingriffen, er hat sogar Angst. Davor, dass sein Körper den neuen Penis abstößt zum Beispiel und dass er nichts fühlt. Und doch lächelt er: Sein Ziel überstrahlt alles.
Jonas hat noch immer Depressionen, die mit Medikamenten behandelt werden. Aber Jonas ist ein Kämpfer. Er hat sich fast ohne Unterstützung durchgebissen, sich informiert, Anträge geschrieben, Rückschläge verkraftet und sich wieder aufgerappelt, Beleidigungen wie „Du wirst nie ein richtiger Mann sein“ oder „Unter Hitler hätten sie dich vergast“ pariert oder überhört. Er hat sogar einen Trans-Stammtisch in Geldern gegründet, in der er lebt, er dreht Youtube-Videos, um aufzuklären und Menschen, die sich fühlen wie er, Hoffnung zu geben.
Und heute hat er Jenni, die beiden sind verlobt. Sie hat er über eine App kennengelernt, keine Dating-, sondern eine Musical-App. Von Anfang an war Jonas ehrlich, hat nichts ausgelassen, nichts beschönigt. Jenni ist es total egal, was war und ob Jonas Mann oder Frau ist. Sie liebt ihn.
Hilfe Für Menschen mit Suizidgedanken gibt es rund um die Uhr die Telefonseelsorge: 0800 1110111.
Transfrau/-mann Transfrauen sind Frauen, die mit einem männlichen Körper geboren wurden. Entsprechend sind Transmänner Männer, die mit einem weiblichen Körper geboren wurden.
Intersexualität Ein intersexueller Körper weist männliche und weibliche Geschlechtsmerkmale auf, so dass eine eindeutige Zuschreibung über das binäre Geschlechtssystem (Mann und Frau) nicht ohne Weiteres möglich ist. Ein anderer Begriff für Intersexuelle ist zwischengeschlechtliche Personen, während „Zwitter“ meist abwertend gebraucht wird. Seit Dezember vergangenen Jahres kann man sich in Deutschland den Geschlechtseintrag „divers“ eintragen lassen, das geschah laut hochgerechneten Eintragungen von Standesämtern in Deutschland bis Mai 2019 in etwa 150 Fällen.
Transvestit Die Personen tragen im privaten oder öffentlichen Raum Kleidung des anderen Geschlechts. Das muss aber nicht dauerhaft, sondern kann auch temporär sein. Ein Transvestit muss nicht homosexuell sein.