Down-Syndrom

DOWN-SYNDROM – Hätte es Konrad nicht geben sollen?

DOWN-SYNDROM – Hätte es Konrad nicht geben sollen?

Sollte die Krankenkasse Bluttests bezahlen, mit denen sich feststellen lässt, ob ein ungeborenes Kind das Down-Syndrom hat? Und die Frage im Hintergrund: Sollte behindertes Leben möglichst gar nicht mehr auf die Welt kommen können? Im Bundestag und in den Medien wurde darüber gerade wieder heftig debattiert. Den ehemaligen GEO-Chefredakteur Peter-Matthias Gaede ließ die Diskussion an eine Begegnung vor 30 Jahren denken, die ihn bis heute nicht loslässt: die Begegnung mit Konrad Eugen Himmelein

Autor: Peter-Matthias Gaede

Konrad Eugen Himmelein

Konrad Eugen Himmelein ©-Foto-Eckard Jonalik

Als langjähriger Reporter und Chefredakteur schrieb Peter-Matthias Gaede viele Beiträge für GEO. Der Text über Konrad Eugen Himmelein aber sollte seine Lieblingsgeschichte bleiben – bis heute

Die Welt des Konrad Eugen Himmelein

Diese Geschichte erzählt von Menschen, die für gewöhnlich »psychisch behindert« genannt werden. Dabei sind sie nur so frei, ganz normal verrückt zu sein. Wie Konrad, der Bäcker, der fliegen kann. Reporter Peter-Matthias Gaede hat sich ihm anvertraut.​

Prolog:

Vor einigen Monaten erreichte mich die Todesanzeige für Konrad Eugen Himmelein, geboren am 29. April 1950. Es stand ein Satz über ihr, eine Frage: „Gibt es einen neuen Stern am Nachthimmel?“ Ich weiß es nicht. Was ich weiß, ist: Konrad Eugen Himmelein war ein Stern auf Erden. Er wäre nun 69 Jahre alt geworden. 68 Jahre immerhin hat er geschafft. Viel für einen Menschen mit Down-Syndrom. Zumindest galt es früher als viel. In der aktuellen Debatte nicht nur im Bundestag um „Trisomie“-Bluttests und das Verhältnis einer Gesellschaft zu Menschen mit Down-Syndrom kam mir Konrad Eugen Himmelein erneut in den Sinn. An seinem 50. Geburtstag besuchte er mich in Begleitung eines Verwandten in meinem Büro; ich musste mich an meinen Computer setzen, und er diktierte mir eine Öko-Botschaft an die Welt. Er sorgte sich um die Welt. Ich habe diese Botschaft nicht mehr. Aber ich habe noch die Geschichte, die ich 1990 über ihn geschrieben habe. Lange her. Und doch vielleicht ein Beitrag zu unserem Nachdenken über das, was wir Behinderung nennen. Hier ist er noch einmal. In memoriam Konrad Eugen Himmelein.

Konrad erklärt den Bäckern die Entdeckung des Atoms. Die Bäcker staunen. Sie geben zu bedenken, die Menschheit habe Mühe genug gehabt, etwas so ungleich Größeres wie Amerika zu finden. Wie könne es ihr da gelungen sein, auf ein winziges milchig-gläsernes Kügelchen zu stoßen. Zufall, meint Konrad. Weil Madame Curie beim Verlassen der Postkutsche in den Schlamm kippte. „Und da lag es, das Atom.” Umschwirrt von Elektronen, deren Weg Konrads Arme in die Luft zeichnen. Dem Otto Hahn, der sich des Fundes annahm, gelang dann, zack, die Spaltung. Hermann ahmt einen Handkantenschlag nach: So müssen sich die Bäcker das vorstellen.

Nachmittags um vier sitzen sie bei Kräutertee zusammen und schmieren sich Marmelade auf das Brot, das sie gebacken haben. Sie schicken 700 Laiber am Tag in den Ofen und manchmal mehr; Leinsamenbrot, Buttermilchbrot, Walnussbrot, rund zehn Sorten, alle in Handarbeit geknetet, biodynamisches Vollkorn, und bis nach Stuttgart und München verkauft. Die Bäcker vom Lehenhof sind eine eingespielte Crew. Jeder in den 17 Häusern der Dorfgemeinschaft kann sich auf die Pünktlichkeit der Hörnchen am Freitag und der Brötchen zum Samstag verlassen. Auch wenn mal einer aus der Stammbesatzung in der Backstube ausfällt. „Den Christian hat leider eine Biene in den Zahn gestochen”, sagt Konrad. „Du spinnst”, sagt Hermann.

Natürlich spinnt Konrad. Wie jeder Verliebte. „1991″ hat er Almut getroffen und beschlossen, fleischlos glücklich zu werden wie sie. Für sie. Almut kommt jeden Morgen den Weg durch den Wald hinauf zur Arbeit im Haus Eschenhain, wo Konrad ein Zimmer im ersten Stock bewohnt. Leider aber hat er seine Hände um diese Zeit schon tief im Teig, und so erfahren die Bäcker mehr von Konrads Liebe zu Almut als Almut selbst. Sie ist „ein prachtvolles Sternenbild” für ihn.

ALMUT. Sie war die erste, die ich auf dem Lehenhof traf, nachmittags in der Küche des Hilda-Heinemann-Hauses. Sie hatte Pflaumen entsteint, wischte sich die Hände an der Schürze ab, sagte „sodele” und verschwand. Am Tisch zurück blieb Hänschen, ein schmächtiger Kerl mit einer scharf konturierten großen Nase, mit kurzen Armen und mit Beinen, die unter seinem Stuhl in der Luft baumeln konnten, ohne die Erde zu berühren. Auch Hänschen war dabei, mit einem Küchenmesser Pflaumen zu sezieren; eine große Menge ließ er im Mund verschwinden, und zur Abwechslung biss er sich mit einer Art entsetzter Fröhlichkeit in den Handballen.

Zwischen fünf und sechs kamen dann auch die anderen Bewohner des Hauses allmählich im Wohnzimmer zusammen: Johannes aus der Kistenfabrik im Tal , Christian und Sonja aus der Webstube, Hans aus der Wollwäsche und Axel. Für Christian war soeben die Blindenausgabe des „Stern” eingetroffen, Hans blätterte in einem Wissenschaftsmagazin, und Axel las in seinen Händen, die er sich mit wild verwickelten Fingern vor die Augen hielt. Hänschen befühlte das Blut eines Mafia-Opfers auf einem Foto im „Time”-Magazin und legte sein Ohr auf die Abbildung eines schreienden Mannes. Beim Abendbrot fassten sich alle an den Händen, bevor sie mit großer Geduld begannen, den Bitten weit entfernt sitzender Tischnachbarn zu entsprechen und Käse und Wurst und Tee und Brot und Salz weiterzureichen, immer wenn sie gerade einen Bissen in den eigenen Mund schieben wollten. Sonjas Oberkörper war nun mit einem breiten Lederband an der Lehne ihres Stuhles vertäut, und Hans, mit 51 Jahren der Älteste im Haus, legte seine Hand immer mal wieder beruhigend und ohne hinzusehen auf Axels Hand, wenn der im Mikado-Spiel mit seinen Fingern versinken wollte.

Almut schwieg, Hänschen pfiff, bis ihm die Gurke gereicht wurde, die er zärtlich auf einer Scheibe Wurst platzierte. Messer und Gabel behandelte er, als seien sie aus hauchdünnem Glas, und Krümel stippte er mit einer Fingerspitze auf, so vorsichtig und konzentriert, als berühre er Seifenblasen. Irgendwie kam Johannes auf Klaus Kinski zu sprechen und meinte, den hätte er nicht gern neben sich in der Kistenfabrik: „Der hat eine schlechte Ausstrahlung”, sagte Johannes. Das fand Christian auch.

Bis auf Roland, zu einer Untersuchung im Krankenhaus, war sie komplett, die Wohngemeinschaft des Heinemann-Hauses: sieben von über 100 „Dörflern” auf dem Lehenhof. Dazu die Hauseltern Lynne und Stephan mit ihren Kindern: zwei von rund 70 Betreuern, für die acht Stunden kein Tag sein dürfen. Die Auflösung des Abendmahls vollzog sich in perfekter Arbeitsteilung, wortlos und eilig; nur Sonja und Axel waren aus der Abwasch- und Abräumkette ausgenommen, an deren Spitze Christian als „biologisch-dynamische Spülmaschine” das Geschirr wusch.

Hans hatte noch einen Termin außer Haus. Weil sich ein Kamerateam der BBC angesagt hatte, probten sie außerplanmäßig das „Karfreitagsspiel” jenes Dr. Karl König, der den Lehenhof vor 26 Jahren als Einrichtung der anthroposophischen Camphill-Bewegung gründete. Ein Stück von der versuchten Verbannung Blinder, Lahmer, Groß- und Kleinköpfiger auf eine antike Insel, von der schließlichen Überwindung ihrer Schwäche durch die Entdeckung, dass es die „Krankheit” ihrer Herzen war, die sie mutlos und uneins hatte werden lassen. Hans war in Not, seinen Part unter den zwölf verteilten „Gebresten” mit Dramatik zu füllen.

Er sollte den Stummen spielen. Schaffte es aber nicht, sich vom „eh, eh, eh” im Skript zu lösen, um zur freieren Interpretation eines Menschen zu gelangen „der innerlich gesagte Sätze nur nicht rausbekommt”. Zwischendurch hockte er matt im Zuschauersaal und streichelte dem Mädchen, das neben ihm im Rollstuhl saß, einmal beiläufig über die Wange.

Konrad Eugen Himmelein

Konrad Eugen Himmelein ©-Foto-Eckard Jonalik

Wenn Konrad auf dem Bett liegt, gibt er seinen Gedanken Starterlaubnis. Meist fliegt er ins All und vergisst dabei nie, Almut mitzunehmen, seine Liebe.

BEIM FRÜHSTÜCK am nächsten Morgen kommen Hans die „Wahrspruchworte” aus Rudolf Steiners „Seelenkalender” sehr viel besser über die Lippen. Wann immer der geistige Übervater des Lehenhofs wörtlich zitiert wird, belegen sich die Stimmen der Rezitierenden mit einem leicht pathetischen Zittern. Auch bei Hans. Ein unwillkürlicher Nachahmungseffekt des herrschenden Vibrato in den Weihefeiern. „Es dämpfet herbstlich sich der Sinne Reizesstreben. Der Sommer hat an mich sich selber hingegeben”, liest Hans in die Versammlung hinein, der Sonja dann das Datum des Tages zur Orientierung mit auf den Weg gibt. Wobei ihr alle helfen, wenn sie mal den richtigen Monat sucht. Meist ist Sonja ihrer Zeit ein wenig voraus.

Kurz nach acht schieben sie los. Sonja im Rollstuhl mit dem Sticker der Feuerwehr Sersheim, Christian mit dem „Marburger Langstock” voraus, Hans mit Filzhut. Und Hänschen mit „schwindelnden Höhen” und anderen Fragmenten irgendeines Jägerlieds, das er in hohem Stakkato herausschleudert. Meist führt ihn sein Weg zunächst zu einem Baumstumpf, in dem er ein Depot von Hölzchen angelegt hat, und dann erst zur Teppichknüpferei. Er braucht diese Hölzchen, um bei der Welt anzuklopfen; und auch bei sich selbst — mit einem kurzen trockenen Schlag über dem rechten Ohr.

Almut ist im Nebel verschwunden und hat den Blick des Bäckers Konrad wieder nicht gesehen.

Johannes, in einem Kleinbus zur Kistenfabrik gefahren, steht im Kreis mit rund 30 Kollegen und verfolgt den alltäglichen Situationsbericht, den der Werkstattleiter gibt. Wenn einer aus „der Kiste” Geburtstag hat, ist dies der Moment für Thomas, seine Bonbondose mit dem Pausenbrot beiseite zu legen und sich aus den Sägespänen vor den Untertischkappsägen zu erheben. Er nimmt dann die blaue Schirmmütze vom Kopf und singt die Arie des Sarastro aus der Zauberflöte. Für gewöhnlich aber hat die Lagebesprechung Terminnöte und die Preissteigerung für den Festmeter Fichte zum Gegenstand. Probleme, die der Chef der Kiste seiner Belegschaft nicht vorenthalten will.

Die Seitenwände der Obstkisten sind schon vernagelt, wenn Johannes sie vom Band nimmt. Er greift sich einen Boden, schiebt ihn in die Maschine und tritt auf ein Pedal. Die Nägel werden dann ins Holz geschossen. 800 Kisten am Tag gehen durch Johannes’ Hände, seit 16 Jahren, oder 751 Kisten oder in der Erntesaison 1050 Kisten, deren genaue Stückzahl er abends unterm Dach des Heinemann-Hauses in ein Buch einträgt; eine Bilanz seiner ganz privaten Zufriedenheit.

Und vielleicht auch der Freifahrtschein für die kleinen Fluchten auf dem lindgrünen Moped, einer 17 Jahre alten DKW, die er sonntags, selten allerdings, aus dem Verschlag am Kaninchenstall hervorholt, um sich hinuntertragen zu lassen bis zum Bodensee. Gegen die kalten Füße bei solchen Reisen schützt sich Johannes mit Stiefeln, die ihm drei Nummern zu groß sind; er hat sie in „40″ statt in „37″ gekauft. „Auf gerader Strecke haut die Maschine ab wie ‘ne Eins”, sagt Johannes, „30, 35 Sachen macht die glatt.”

Im Frühling hält Gerti der Wiese eine Rede

DIE ENTDECKUNG DER LANGSAMKEIT hat der Werkstattleiter der Kiste zwar schon lange hinter sich, seine Reserven an Langmut aber muss er täglich neu entdecken. Einerseits will er mehr als Beschäftigungstherapie für seine Belegschaft, sondern die „industrielle Produktion sinnvoller Güter”. Andererseits gibt es auf dem Lehenhof auch zarter besaitete Betreuer, denen das Montageband für die Kistenböden, Arbeitsplatz von rund zehn Dörflern, ein Schreckgespenst ist. Unkreativ wie sonst nur noch das verbotene Fernsehen.

Rund die Hälfte des Zwei-Millionen-Umsatzes des Lehenhofes erwirtschaftet die Kiste; sie trägt entscheidend dazu bei, dass der Pflegesatz hier weit unter dem einer üblichen psychiatrischen Landesklinik liegt. Aber zwei- bis dreimal höher ist der Umsatz ähnlich großer Schreinereien der Umgebung, mit denen konkurriert werden muss. Dennoch würde sich an der Dorfgemeinschafts-Idee vergehen, wer den Arbeitern nicht jederzeit erlaubte, zur Fuß- oder Seelenpflege abzutreten, zur Theaterprobe zu verschwinden.

Der Werkstattleiter und die Mitarbeiter sehen sich da in mancher Konfliktsituation zwischen der Binnenwelt der Dörfler und dem zugigen Außenklima. „Es beruhigt den Kunden nicht, wenn er einen Lkw schickt, um Kisten abzuholen, und ich sage dem, unsere Jungens tanzen gerade um das Johannisfeuer”, sagt ein Betreuer.

Aber das kommt selten vor. So selten wie Arbeitsunfälle. So selten wie Arbeitsunlust. Obwohl die „Prämie”, die Johannes im Monat bekommt, nicht für eine tägliche Tafel Schokolade reichen würde. Und bis auf ein Taschengeld ohnehin im Dörfler-Sozialfonds landet. Für einen Teil der Häuser verwaltet ihn Hans, stolzer Manager eines Vermögens, aus dem – alle für einen, einer für alle – die Reparatur von Brillengestellen bezahlt wird, Ersatz für verlorengegangene Uhren, Fahrräder, Urlaubsreisen und auch mal ein Radio.

KURZ VOR BEGINN der Mittagspause winkt mich Konrad in die Bäckerei, um mir einen Gruß an Almut aufzutragen. Seine 150 Zentimeter sind von Kniehöhe aufwärts in einen Parka gepackt, auf dem ein Aufnäher Konrads zweite Leidenschaft verrät: die Raumfahrt. Genaugenommen ist sie die ältere, denn sie begann „am 21. Juli 1969″, als Konrad 20 Jahre alt war und Neil Armstrong seine Füße auf den Mond setzte. Konrad lädt mich zum Mitfliegen ein für einen der nächsten Abende.

Renate, geht’s mit deinem Gehgestell?” fragt Volker mit der bemehlten Brille, und hält einer Dame die Tür auf, um sie in die Rush-hour vor der Bäckerei zu entlassen. Morgens, mittags, abends kreuzen sich hier, zwischen Backofen, Kuhstall und Verwaltung, die Wege fast aller Dörfler. Erzählt Marcel, der seit 25 Jahren den Stall entmistet, von der Freundin in Berlin, die mit roten Fingernägeln in einem Jaguar oder einem Camaro auf ihn wartet. Berichtet Bernhard, der Verwalter der Briefmarkenkasse, von Kanzler Kohls Genesungsprozess nach der Unterleibsoperation. Träumt Hermann, der Mann mit den zwei Radios, von der fürs nächste Jahr geplanten Amerika-Reise. Sitzt Gerti, der Bäcker, auf seiner Stammbank unter dem Kastanienbaum, auf der er zu seinen Krankheiten spricht, vor allem zur Heiserkeit; nach einem langen Winter auch zur Wiese, der er dann „Blumen raus” befiehlt. Manchmal lachen sie über Gerti, ohne Verachtung.

Beim Mittagstisch sagt Hänschen „Rudolf Steiner”. Rudolf Steiner sagt Hänschen immer dann, wenn er sich ärgert. Der Kamin im Heinemann-Haus, in dem er einst ein Standardwerk des Meisters versenkte, ist im Zuge der allgemeinen Gefahrenabwehr inzwischen stillgelegt. „Es gibt keine normalen Menschen mehr”, wirft Johannes ein, „heute haben sogar Politiker und Polizisten ihre Macken.” Die sie sich allerdings nicht anmerken ließen. „Nur mir merkt man es an”, ergänzt Johannes nach einer Pause.

Als er sich unbeobachtet fühlt, die anderen sind schon beim Abwasch, gesteht sich Hans ein Quantum Wut zu. Er fasst Axel, der seinen Teller noch nicht leer hat, an der Nase, reißt sie nach oben und stopft ihm eine Portion Kartoffeln in den Mund. Dazu rutscht ihm ein zufriedenes „na also” heraus.

Solch ein Blick auf eine Privat-Grenze des Gleichmuts ist rar. Wenn ich an Tischen mit bis zu 21 spontan zusammengekommenen Essern im Alter von 19 bis 68 Jahren nach dem Limit der Aufnahmefähigkeit fahnde, irgendeinem Ende des Geduldsfadens, suche ich meist vergebens. Toleranzzone. Sie haben einen anderen Begriff von Fortschritt, und der ist nicht an Effizienz gekoppelt: Gerti hat nach acht Jahren in der Bäckerei, acht Jahren, in denen er nur aus seinen leuchtend blauen Augen gesprochen hat, begonnen, seinen Mund zu benutzen. Und Hänschen, im Alter von dreieinhalb Jahren von einem Arzt zur Verschlusssache der Psychiatrie erklärt, übt auf den nassen Wiesen fröhlich Kopfstand.

Stille Wasser sind schief, meint Hermann

ABENDS NACH DEM SINGEN, „Winde zum Tanze die goldenen Ähren” mit dem Bäcker Hans-Peter an der Geige, hocken von den Heinemann-Häuslern noch einige unter der Lampe im Wohnzimmer. Almut entwirrt die Wolle, aus der Sonja einen Schal stricken will, seit die anderen zurückdenken können.

Endlich richte ich Almut den Gruß von Konrad aus. Verlegenheit wischt über ihr Gesicht. Wenn sich Almut freut, reibt sie sich mit Höchstgeschwindigkeit die Hände. Aber jetzt lässt sie die Wolle nicht los. Almut, die auf ihrem „Würgmänn jüdische Lieder” hört und gern puzzelt. Der nicht anzumerken ist, welche Haarrisse in der Psyche sich zu dem Tragflächenbruch ausweiteten, der sie auf dem Lehenhof notlanden ließ. Der nichts anzumerken ist, solange der Tag keine Irritationen für sie bereithält, keine Verspätungen in den erprobten Abläufen, keine verrückten Dinge in den Schränken. Keinen Teller, den sie zuwenig auf den Tisch gestellt hat.

Almut, 27, der die Verlässlichkeit der Welt die Haut ersetzen muss. Hänschen, 30, der für andere kaum merklich einem abgebauten Kran vor dem Fenster nachtrauern kann. Christian, 27, dem 1980 das Licht ausgegangen ist, aber sonst nichts, was er erklären könnte. Hans mit seinem der Sage nach aus Schokoladentürmen und Chaos gebauten Zimmer, in das er niemanden hineinlässt: Es gibt vieles, was sie für sich behalten. Für sich behalten wollen. Müssen. Dürfen. Manchmal sitzen sie wie ein Geheimbund zusammen. In langen Schweigedemonstrationen. Scheinbar geschichtslos.

Eine Gehirnhautentzündung, ein Autounfall, ein Geburtsfehler, einige traumatische Stunden im Keller eines zerbombten Hauses haben ihnen das Gestern genommen, und den meisten von ihnen auch die Fähigkeit, mit der Gegenwart uneins zu sein. Nur Johannes erzählt mir von „früher”. Johannes, 40, der Sohn des Uhrmachers, der gelernte Schuster, ist nicht für Ellenbogeneinsätze geschaffen gewesen. Die Prognose, andere haben sie formuliert, lautete: „Gosse”. In seiner Erinnerung hat er eine Kette von Heimen, viele „Käfige”; Höfe, in denen „man nur Hand in Hand spazierengehen durfte, wie bei Bekloppten”. Sein Vater hat ihn rausgeholt. Als die anderen fragten, ob der das dürfe, hat Johannes ihnen gesagt: „Mein Vater darf alles, und wenn der mich totschlagen wollte, dann dürfte der das.”

DAS FIND ICH ECHT GUT, strahlt Konrad, als ich ihm am nächsten Morgen ausrichte, dass sein Gruß an Almut angekommen ist. Und er reibt sich die Hände, wie es sonst auf dem Lehenhof nur die Adressatin seiner Botschaft kann. Bis sie glühen. „Du bist der Retter der Liebe” , sagt Konrad. Eigentlich soll er Pflaumen auf den Kuchen legen. Er muss mir aber einen Brief diktieren: „Meine liebe Almut, ich mag Dich. Wir Universumsflieger. Ich breche aus den Sternen.” Gerti hat neue Schuhe bekommen, hellgraue Klötze, schwer wie Brote. Mit Klettverschluss; es ist ihm nach „tanzen” zumute, „tanzen, tanzen”.

Gerti fängt immer bei „80″ an und lässt sich nur ungern herunterhandeln, wenn ihn einer nach dem Alter fragt. Keiner weiß, warum ihm seine 43 Jahre nicht genügen. „Stille Wasser sind schief”, meint Hermann.

Hermann treffe ich am Nachmittag im „Lager” wieder, wo er den Kühlschrank mit dem Speiseeis betreut. Das Lager ist zweimal wöchentlich ab 17 Uhr geöffnet, der Konsumtempel des Lehenhofs. Seit 15 Jahren ist hier Otto mit der Baskenmütze der Chef. Otto ist einer der Ältesten in der Dorfgemeinschaft, hat früher mal ein Reformhaus besessen, bis ihn der Partner über den Tresen zog. „Der Otto war zu weich”, sagen die, die von seiner Vergangenheit wissen. „Er hat das nicht verkraftet und auch nicht den Krieg.” Er wirkt auch jetzt wie hingehaucht, immer leicht verlegen und als habe er es aufgegeben, nach Menschen zu suchen, die ihn nicht unterschätzen.

Aber er hat es geschafft, durch die Mitte seines Ladens eine Kette zu spannen, um die bargeldlose Selbstbedienung in weiter entfernten Regalen zu stoppen. „Sie meinen es nicht böse”, nimmt Otto seine Kunden in Schutz, „sie haben da nur nicht diese . . . Sicherheit.”

Dabei ist es kein Kaufrausch, dem sich Otto, umstellt von Milka und Weleda, gegenübersieht. Ulla will ihr „stilles Wasser”, wie immer, und nie mehr als eine Flasche davon. Die meisten treibt die kleine Sehnsucht nach dem Süßstoff des Lebens am Tresen entlang, die Genugtuung, zweimal in der Woche an der Schokoladenseite defilieren zu können, um sich einige Riegel daraus nach freiem Bedarf abzubrechen. Ein Genuss, spürbar dadurch gesteigert, dass er aus eigener Tasche bezahlt werden kann. Was zu sehen ist, wenn sie den Inhalt ihrer Geldbörsen gespannt auf die Holzschaufel schütten, die ihnen Otto entgegenhält.

KONRAD HAT WIEDER MAL eine Chance ausgelassen, mit Almut zu reden. Er hätte sie beim Schrubben im Flur treffen können, zog es aber vor, das Brot vor der Tür abzustellen. „Ich kann sie doch nicht beim Arbeiten stören”, flüstert er mir zu. Vielleicht liebt er die Fiktion noch inniger als die Erfüllung. Oder er hat Angst.

Aber abends in seinem Zimmer, da hebt er ab. Da ist er freier. Dann geht er auf Reise. Seine Fantasien heben die niedrige Decke hoch, seine Gedanken haben nicht mehr Platz auf den zwei mal vier Metern. Zwischen den Bildern von Raumfähren und Mondfahrzeugen, den Büchern von Galilei, Keppler und Kopernikus, zwischen dem „Kometenbrevier für jedermann” und den „Wichtigen Papieren von Konrad”, worin er aufhebt, dass die „Columbia” sicher gelandet ist, da träumt sich Konrad in Höhen, in die man ihn nicht mehr begleiten kann. „Nur Schlafanzug und Nudeln, Spiegeleier und gelbe Rüben” wird er mitnehmern auf die Umlaufbahn, und „Teller von schwebender Schwerelosigkeit”.

An die Wand ist ein Foto gepinnt, das ihn im Lager einer Elektrohandlung zeigt. Dazu die Unterschriften aller Kollegen und ein Gedicht zu seinem Abschied. Dreimal war Konrad in den Ferien auf dem Lehenhof. Am Ende des dritten Besuchs sagte er seiner Mutter, er habe sich nun entschieden zu bleiben. Konrad hat es draußen nicht schlecht gehabt, wissen die Betreuer. Er sei beliebt gewesen. Um den Preis, dass er den Clown spielte.

Das muss er nicht mehr, hat sich das volle Menschenrecht erkämpft, alle Bäcker und noch ein paar andere auf dem Lehenhof mit seiner Sehnsucht zu nerven. Er liegt auf dem Bett und guckt mit einem Fernglas, Marke „Seeadler”, aus dem Fenster. Selbst wenn heute nacht keine Sterne zu sehen sind: Konrads Freiheit kann auch unter den Wolken grenzenlos sein.

Er tauscht das Fernrohr gegen sein Akkordeon. Er setzt zu einer Ode an Wernher von Braun an – um schließlich den Bogen zu Almut zu schaffen: „Im Universum haben wir unsere Ruhe.” Seine Nachbarin Ingrid, von der Musik ins Zimmer gelockt, kichert und will wissen, wie er das meine, mit der Ruhe. „Was ich im All mit Almut mache, das geht dich gar nichts an, Ingrid”, gibt ihr Konrad Bescheid.

Er bringt mich an die Haustür. „Auch die Liebe ist eine Wissenschaft”, sagt er zum Abschied. Und: „Wollen Sie noch etwas trinken?”

Zu Helgas Boogie-Woogie singt Jo von der Liebe

SONNTAG. Nur Axel begreift ihn nicht. Es kann passieren, dass er vor der verschlossenen Tür der Weberei gefunden wird, in der er sechs Tage in der Woche Wolle auf eine Walze dreht. Marcel ist meist auf der Suche nach einer Kirche unterwegs, in der er noch kein Hausverbot hat. Er redet den Pfarrern zu oft dazwischen und von sich immer in der dritten Person. Singt zu gern „Du hast Glück bei den Frau’n, Bel ami”. Wenn er nicht zu früh startet, begleitet ihn die „Verlobte” Sylvia Hand in Hand ein Stück seines Weges, bis zur Bank am Maisfeld. Hans schiebt Sonja „im elektrischen Stuhl” zu den Weihern. Almut dreht mit Hänschen und Christian die große Schleife durch die Hügel, manchmal bestimmen sie dabei Pflanzen. Der Bäcker Hermann hat es bis auf Voralpengipfel jenseits des Bodensees gebracht. Sonntags kommen die persönlichen Mobilitätsreserven zum Vorschein.

Sie gehen selten allein los. Gemeinsamkeit heißt das Medikament, das sie die ganze Woche über in stärkster Dosierung bekommen und auch am freien Tag nicht absetzen. Konrad, der Marcel zu oft vom Sterben erzählen hört, will mir die Düsternis in dessen Worten erklären: “Du musst verstehen”, sagt er im Vertrauen, “der Marcel ist ein bisschen geistig krank.” Es ist selten, dass einer so redet. Kranksein heißt hier eine Grippe haben. Dahinter verblasst das Bewusstsein der Dörfler, dass für ein rundes Drittel von ihnen der Psychiater vorbeikommt und es auch solche gibt, die — chemisch — „eingestellt” werden, ausbalanciert mit Psychopharmaka.

Sonntags, wenn sie ausgeflogen sind: Wer ihre Zimmer dann durchwanderte, würde unter den Bewohnern viele artige Jungen vermuten. Und fromme kleine Mädchen. Karge Klausen liegen hinter den offenen Türen. Mit dem verschrammten, aber reinlichen Mobiliar der 1960er Jahre. Oder Zimmer wie kunstgewerbliche Warenlager, Aufwärmkammern für die Seele, voller Betsprüche und bunter Kalender und mit „Heidi” im Bücherregal, mit Puppen und Poesiealben. Behausungen wie Dechiffrieranleitungen für die Psyche jener, die hier ihre Privatheit haben, mögen an mancher Wand auch nur die Charakter-Bilder der Verwandten hängen, ihre Wünsche, heile Welt zu stiften.

Sie sind Schutzräume, diese Zimmer, und doch völlig verschieden von der hygienisch gekachelten Sicherheitsverwahrung üblicher Psychiatrie: Teil des familiären Lehenhof-Konzepts, zu dem mehr gehört, als ein materielles Aufgehobensein zu schaffen, mehr als bloß satt und sauber zu machen. Zu dem das Brot des Bäckers gehört, nicht die Großküche. Fast 300 Anfragen nach einem freien Platz gehen jedes Jahr ein, aber keine fünf Mal in seiner Geschichte haben auf dem Lehenhof Dörfler gelebt, vor denen die Mitarbeiter kapitulieren mussten.

Gebraucht wird jeder.

Volker, sonntags mit etwas weniger Mehl auf der Brille als sonst, hat ohne die Hilfe des Werkstattleiters zwei Apfelkuchen gebacken. Mit einer Überdosis Salz und so fest, dass er sie wie große Bücher unterm Arm in das selbstverwaltete Café tragen kann, in das fast alle Dörfler am Nachmittag kommen. Vor dem Versammlungssaal stehen weißgedeckte Tische in der Sonne. Einige Betreuer helfen im Hintergrund. Konrad wartet schon mit dem Akkordeon auf den Knien. Er glaubt ganz fest daran, dass er das Caféhaus-Publikum, darunter hoffentlich Almut, begeistern kann. Aber er glaubt nicht alles auf der Welt. Die einzige fliegende Untertasse zum Beispiel, von deren Existenz er sicher weiß, „hat die Frau von Wernher von Braun nach ihm geschmissen”.

Der Chef der Bäckerei hat die Theorie, dass Konrad Almut vielleicht schon wegen ihres Namens so galaktisch gut findet. Wer könne seine Fantasien besser befördern, als All-Mut? Zumindest sei das nicht auszuschließen.

Sie redet schwäbisch und hat eine tolle Figur”, raunt mir Konrad zu, als er Almut kommen sieht. Sie setzt sich an einen entfernteren Tisch, und Konrads Sichtkontakt zu ihr wird nun von den roten Strohhüten behindert, die Sabinchen und Evchen der Spätsommergesellschaft präsentieren. Evchen, die täglich tausend O’s aus Daumen und Zeigefinger formt und dann mit zärtlichem Schnipsen irgend etwas, das niemand kennt, auf die Reise in die Atmosphäre schickt. An den Hosenträgern einiger Herren sind Rosen zu sehen und um die Beine der Damen lange Blümchenröcke. Jetzt ist viel Sahne versprochen.

Nach einer Stunde erreicht Konrad die Bitte, das Akkordeon in den Kasten zu packen. Für das Geld, das sich in seinem Hut gesammelt hat, würde er Almut gern einladen, entscheidet sich dann aber doch nur dafür, an der Theke darum zu kämpfen, dass die Geliebte schnell an ihr bestelltes Eis kommt. Was schwierig ist, weil Volker, der kellnert, im Übereifer schon eine Ladung Spülmittel in den Trog gegeben hat. Und außerdem seinerseits damit beschäftigt ist, sein erstes Trinkgeld in eine Einladung an eine junge Besucherin zu investieren. Irgend jemand sucht noch immer nach dem Messer, mit dem man Volkers Apfelkuchen in Stücke schneiden könnte.

Ohuohu, love is a feeling”, singt Jo, der Raucher, drinnen im Saal über den Flügel gelehnt. In die Tasten haut die dicke Helga aus Wien, die mit Jo die Lust am vierhändig gepfefferten Boogie-Woogie teilt, ein bisschen auch die gegenseitige Zuneigung, die jeder sehen kann, wenn sie auf der Bank sitzen und sich über die Köpfe streicheln. „Bababahua, she’s my Baby”, singt Jo und lässt die Augen entgleisen. Gerti ruft „toll” und „tanzen”.

Jo, der ewige Zigarettenschnorrer. Der Underdog. Wochentags schiebt er meist einen Karren umher, bringt Müll von hier nach dort. Sein Gang hat etwas von der Westernparodie eines Betrunkenen, seine Arme rudern umher, seine schweren Schuhe bekommt er nicht vom Asphalt. Mehrmals täglich geht Jo verloren, und wenn er wieder auftaucht in der Dorfmeisterei, bekommt er da nicht nur Streicheleinheiten. Etwas an ihm provoziert auch geduldige Betreuer, etwas von ihm ist nicht gut aufgehoben auf dem Lehenhof. Etwas ist in ihm, das keine Anerkennung findet. Seine Musik könnte sie bekommen, würde sie in die Tonlage des Lehenhofs passen; in dieses Moll der Leier-Lektionen und Glockenspiele, die wie Tranquilizer auf das Gemüt und den Sex wirken. Wirken sollen.

Ein Betreuer schaut verdrossen in den Saal. Aber Helga findet es „Spitze”, und Jo spielt ja auch tatsächlich wie ein Profi, und als er sein „Morning has broken” seufzt, wiegt Gerti den Kopf in seinen Händen, als schaukelte er ganz geheime Erinnerungen. Ein Bäcker setzt sich an den Flügel, spielt Beethovens „Für Elise”, dann Konrad, der „für Almut” spielt.

Jo schielt mich eine Weile sprachlos an. „Meinst du, die beim Radio könnten eine Schallplatte von mir machen?” Ungeschützt wirkt er plötzlich, so ungeschützt, wie mich Ingrid am „Fußweh” ihrer Kasperpuppe teilhaben lässt, oder Gisela an ihren Schreibübungen.

Für Gisela ist jedes Wort ein kleines Wagnis

WENN GISELAS LOCKENKOPF tief über die Platte gebeugt ist, wenn sie eine neue Seite so zögernd aufschlägt, als eröffne sich auf dem nächsten leeren Blatt eine unbekannte Welt, wenn sie dann den Bleistift zunächst verkehrt herum führt, und, als sie es bemerkt, „o schade” sagt, und dann richtig herum, aber so, dass der Bleistift kaum eine Spur hinterlässt – dann ist die Würde dieses Menschen unantastbar. Gleichzeitig offenbart sich eine Arglosigkeit, die auch Wehrlosigkeit ist. Denn die absichtslose Freundlichkeit der Dörfler, ihr nahezu totales Defizit an Hinterlist, mag andere erwärmen, sie selbst macht es auch nackt.

Erwartungsvoll überreicht mir Roland, zurückgekehrt aus dem Krankenhaus ins Heinemann-Haus, eine Kladde, in die er Kapitel für Kapitel deutsche Geschichte schreibt. Mit rotunterstrichenen Zwischentiteln und dem jeweiligen Datum der Eintragung. ,,Meine Eltern haben nichts mehr von mir erwartet”, sagt er. Roland, ein 27-jähriger, der das Lernen entdeckt hat. Und der raus will, raus aus allem, aus sich selbst, aus den Werkstätten, aus dem Bedürfnisnebel, in dem er stochert. Wo seine Grenzen liegen, weiß er noch nicht. Er will den Führerschein machen, hat die Antworten für den theoretischen Teil auswendig gelernt.

Irgendwann im Februar hat dessen Computer im Kopf mit der Arbeit begonnen”, erklärt Johannes, dessen Bett an der Wand zu Rolands Zimmer steht. Seither vergleichen die beiden das Längerwerden ihrer Bücherreihen, und in Rolands Ordner wachsen die Stationen des SS-Staates in bizarren handgeschriebenen Kurzversionen – ein Anschreiben gegen die ganz eigene unbewältigte Vergangenheit. Roland kann keinen Frieden machen. Kann nicht einfach Herbstgedichte zu Papier bringen wie Johannes.

Kann sich auch nicht so forsch in den Tag hineinreden wie Christian, der immer nur die Nachrichten meint, wenn er „sieht nicht gut aus” sagt. Wenn Christian auf seinem Bett liegt und überlegt, dann kann er auch nichts Schlechtes sehen in seinem Leben. Den tiefen Schnitt, den es erfuhr, scheint er aushalten zu können. Wie den Venedig-Bildband im Bücherbord neben Wallraffs „Ganz unten” in der Punktschrift- Fassung.

Das Erlernen der Blindenschrift war „so gesehen der letzte Härtetest” für ihn. Denn die Webstube des Lehenhofs steuert Christian ganz stressfrei an. Fast mit der Lust, einen Sinn des Lebens in Zentimetern bemessen zu können. 210 Zentimeter Teppich schafft er in zwei Arbeitswochen.

Die Gewissheit, etwas wert zu sein, teilen die meisten Dörfler mit Christian – auch wenn ihr Verhältnis zu den eigenen Fähigkeiten bei vielen nicht ganz so unkompliziert wirkt wie bei ihm. Um zehn Uhr in der Knüpferei, der Weberei, der Wollwäsche: konzentrierte, verschlossene Gesichter, manche wie in meditativer Versenkung. Hände, die unvermittelt bewegungslos werden, als seien die Richtungsbefehle aus den Köpfen nicht mehr zu entschlüsseln. Andere, die gleichmäßig wie Maschinenteile arbeiten. Unterm Gummibaum in der Wollwerkstatt sitzt Gisela und verfolgt den Weg der Wolle aus ihren Händen auf das Spinnrad. Auch wenn es ihr eigener Fuß ist, der das Rad zum Laufen bringt – sie wirkt so angespannt, fast überrascht, als sähe sie das alles zum ersten Mal. „Du weißt nicht, was Zuspätkommen heißt”, flüstert sie.

KONRAD HAT ALMUT vom Friseur Zipfel kommen sehen. „Es ist gut, dass Sie da sind”, ruft er mir zu, nimmt mich an die Hand und holt eine Schere aus der Backstube: „So kurz wie bei Almut, ich möcht‘ ihr nämlich gefallen.” Nach wenigen Schnitten und einem Blick in die nächstgelegene Fensterscheibe sieht er das Ziel erreicht, „genauso schön auszusehen wie sie”. Konrad ist „sehr glücklich heute”, denn mittlerweile steht fest, dass auch Almut den Ausflug ins Restaurant „Am Höchsten” mitmachen wird. „Ein ganz modernes Hemd” hat Konrad vorsorglich schon seit einigen Tagen in einer Plastiktüte dabei.

Aber am Nachmittag steht zunächst noch Eurythmie auf dem Programm. An der Tafel des kleinen Saales sind seltsame Wege vorgezeichnet; in Figuren, die an die Form von Hörnchen und Brezeln erinnern. Die Bäcker stehen im Kreis, Konrad, Hermann, Volker, Hans-Peter. Nur Gerti will nicht in die Ballettschuhe schlüpfen:

Fußschmerzen.” Wenn sich die Bäcker jetzt in Bewegung setzen, sollen sie spüren, dass zu jedem Buchstaben ein ihm gemäßer Ausdruck des Körpers passt. Ihre Seele soll schreiten. So jedenfalls ist es beabsichtigt. Bewegung als sichtbarer Gesang. „Rastlos vorwärts musst du streben, … nur Beharrung führt zum Ziel”, deklamiert der Eurythmist aus Schillers „Sprüchen des Konfuzius” und lobt Hans-Peters Oben-Unten- Koordination mit einem „sehr gut”. „Freut mich”, sagt Hans-Peter.

Dort fällt ein Korn, die Ruh’ ist süß.” Spreizschritt nach links, die Arme ausstrecken, den Kupferstab an den Nebenmann reichen, den Kupferstab senkrecht vor die Brust ziehen und mit beiden Händen umfassen, dann wieder loslassen. “Ein Wechselspiel aus Altruismus und Egoismus” schwebt dem Eurythmisten vor, das seine Schüler souverän und lässig beherrschen. Aber für den Flug im Hochnebel der Esoterik sind die Bäcker entschieden zu schwer, und zumindest Konrad sitzt im Geiste ohnehin schon neben Almut im „Höchsten”.

Als es Stunden darauf tatsächlich soweit ist, bestellt er „Käseplatte”. Wie Almut vor ihm. Die anderen schieben sich mächtige Schnitzel ein. Zwei Käseplatten für Almut und Konrad sind eine exklusive Gemeinsamkeit, die ihn ganz sprachlos macht. Aber nachher wird er erzählen, sie, Almut, habe das gleiche bestellt wie er. Und das habe sich bei der Nachspeise sogar noch wiederholt, mit zweimal gemischtem Eis und Sahne. Er wird vergessen, dass sie kein Wort miteinander geredet haben. Er strahlt.

Später am Abend sind sie noch einmal feierlich vereint. Im großen Saal des Lehenhofs gibt Mariane Schram einen Liederabend. Eine Karriere als Sopranistin an der Nürnberger Oper hätte sie haben können, aber sie entschied sich für die Bewegung des Dr. König; deshalb können Gerti, Hermann und Bernhard ihre Hausmutter nun als Diva bestaunen. Auf dem Programm stehen Brahms, Dvořák und Beethoven. „Almut hat mir zugelächelt”, wispert Konrad.

Im Foyer bittet mich Sabinchen um Feuer. Zwei Pausen waren ausgedruckt, zwei Zigaretten hat sie deshalb in der Handtasche. Sabinchens Zigaretten kommen ganz ohne Tabak aus, sind krumm und zierlich aus Papier-Servietten gedreht. Konrad erinnert sich unscharf an einen Borchert-Abend, eine Lesung, in der er das Wort „Omelette” gehört haben will. Sabinchen schnippt die unsichtbare Zigarettenasche gekonnt in einen Blumenkübel. Hans erklärt, weshalb er ein Sweatshirt von „Greenpeace” trägt: „Ich helfe denen, indem ich solche Käufe tätige, denn für eine weitere Unterstützung fehlen mir leider die finanziellen Mittel.” Bernhard regt sich über Dörfler auf, die bei ihm, der akkuraten Postdienststelle des Lehenhofs, „Briefmarken auf Raten” kaufen wollen. „Aber nix.” Er bleibe wachsam. Wie auch sonst im Leben. Gorbatschows Perestrojka-Buch habe er schon bestellt.

Kennst du das Land, wo die Zitronen blühen?”

Konrad kennt noch ganz andere Länder. „Ach, die Mariane hat so schön gesungen”, strahlt er und reibt sich die Hände. Gerti hat ihr einen Blumenstrauß überreicht. Gerti mit den Tanzschuhen an den Füßen. „Heimweh”, sagt er. “Heiser.” „Traurig.”

Am nächsten Morgen sind Diskussionsveranstaltungen mit den Eltern angesetzt, die zum Jahrestreffen erschienen sind. Das Thema heißt „Seelenpflege”. Die Gäste in der Runde ringen um Gottesbegriff und Menschenbegriff. Konrad wirft ein klares „Einstein” ein.

Die Eltern staunen, „Ich bin der kleine Mikrokosmos”, sagt Konrad Eugen Himmelein.

Quelle: https://www.geo.de/wissen/21305-rtkl-down-syndrom-haette-es-konrad-nicht-geben-sollen?fbclid=IwAR3GWo7Q4Z8vR2wh6087Ce1D_ORjRhCqC6kXdhNyEwFSL0PhvRS1lczIS88

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