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Das Behörden-Drama um Markus Igel

Das Behörden-Drama um Markus Igel

Veröffentlicht am  von Gerhard Bartz

Drei rote Ausrufezeichen
Drei rote Ausrufezeichen
Bild: ForseA e.V.

Saarbrücken (kobinet) Wie kobinet berichtete, wird für den 24. Januar eine Demonstration vor dem saarländischen Landesamt für Soziales in Saarbrücken organisiert. Vorausgegangen ist eine Petition mit aktuell deutlich über 50.000 Unterschriften und ein Spendenaufruf, der bislang schon über 17.000 Euro erbracht hat. Es geht um Markus Igel, der von dem saarländischen Landesamt massiv unter Druck gesetzt wird. Er soll seine Assistenzpersonen entlassen und durch osteuropäische Pflegekräfte ersetzen. Als Alternative verbleibt ihm nur der Einzug in eine Anstalt. Er klagt zwar dagegen, aber er hat Angst, dass er die Zeit bis zur Gerichtsentscheidung nicht überbrücken kann und somit doch das Assistenzteam auf die Straße setzen muss. Das Saarbrücker Landesamt für Soziales in einer Stellungnahme für den Südwestrundfunk: “Wir können Ihnen versichern, dass das LAS grundsätzlich jederzeit das Ziel verfolgt, auch (…) für jeden Betroffenen zur Sicherstellung eines selbstbestimmten Lebens jeweils ein adäquates Bedarfsdeckungskonzept zu entwickeln und anzubieten.”

Zwischenzeitlich gibt es eine neue Petition, mit der verhindert werden soll, dass junge behinderte Menschen aus Kostengründen in Anstalten abgeschoben werden.

Links zum Thema

zum Fernsehbericht über Markus Igel
zum Hinweis auf die Solidaritätsdemonstration für Markus Igel am 24. Januar in Saarbrücken 
zum Aufruf für die Solidaritätsdemo
zur Fundraising-Aktion 
zur Petition für Markus Igel 

Um alles in der Welt: wie lange noch?
Ein Kommentar von kobinet-Redakteur Gerhard Bartz

Wie lange noch müssen Menschen mit behinderungsbedingtem Assistenzbedarf um ihre Grundrechte betteln, demonstrieren, Petitionen schreiben, in den Medien appellieren, Briefe und Widersprüche verfassen, klagen? Nur, weil die Gesellschaft immer noch hofft, diese Menschen aus ihrem Gesichtsfeld heraushalten zu können? Die Abwehr kostet zweifellos ein Vielfaches im Vergleich zu den Aufwendungen, die tatsächlich bei behinderten Menschen ankommen.

Gleiches gilt für die Wegnahme von Einkommen und Vermögen, auch deren Kontrolle beträgt ein Vielfaches der Einsparungen, was sie an Entlastung für die Haushalte bringt. Ist diese Abschreckung von gesetzlichen Ansprüchen mit der Verfassung und der Behindertenrechtskonvention vereinbar? Sicherlich nicht!

Wenn Menschen mit Assistenzbedarf Arbeitsplätze schaffen, dann für die eigene Assistenz und nicht für Sachverständige und Sachbearbeiter, Wissenschaftler und Ministeriumsmitarbeiter. Sie brauchen auch niemand, der ihnen ein Lebenskonzept entwickelt. Wenn Sie Hilfe hierzu brauchen, werden sie sich in der Regel selbst darum kümmern oder finden hierfür eine Person ihres Vertrauens. Und was ist das für eine „Bethlehem“-Methode, nach der ein behinderter Mensch Zeit seines Lebens verwaltungstechnisch an seine Geburtsstätte gefesselt ist? Hinter der Marke “Soziales” kann man sachlich an die Anspruchsteller herangehen. Der soziale Gedanke aber erlischt vor dem Gebot der sachlichen „Zwänge“. Das Landesamt für Soziales könnte auch verwaltungstechnisch ein Landesamt für Abfallentsorgung sein. Da nimmt man sich die Macht, die durch das Bundesteilhabegesetz auch noch gestärkt wurde und maßt sich an, Entscheidungen über einen Menschen selbst im fernen Rheinland-Pfalz treffen zu können. Ob der damit einverstanden ist oder nicht, was kümmert das eine Behörde? Ebenso werden Gerichtsentscheidungen behandelt, wenn sie der Behörde nicht in den Kram passen. Es ist so viel von personenzentrierten Leistungen die Rede. Sind das wirklich alles nur hohle Hochglanz-Phrasen? Scheitern alle Vorhaben an den Behörden, die mit beispielloser Machtfülle ausgestattet sind? Alle Behördenentscheidungen müssen einer Betrachtung unter der Lupe von Verfassung und Behindertenrechtskonvention standhalten. Aber wenn selbst der Gesetzgeber erkennen lässt, dass ihm die Verfassung und die Behindertenrechtskonvention – zumindest im Bereich der Gesetzgebung für behinderte Menschen – egal ist, wie kann man Selbiges den Behörden verübeln?

Behinderte Menschen haben ja die Möglichkeit, Entscheidungen dahingehend prüfen zu lassen, ob Grundgesetz und Behindertenrechtskonvention Rechnung getragen wurde. Aber dafür müssen sie zunächst einmal anwaltliche Hilfe in Anspruch nehmen. Es gibt tatsächlich Anwälte, die keine freie Termine für klagende Menschen haben, die zu den Bedingungen der Prozesskostenhilfe Unterstützung suchen. Da sich ohne diese jedoch kaum jemand die Stundensätze der Anwälte leisten kann, bleibt das Recht, auf das man Anspruch hätte, oftmals auf der Strecke.

Kann jemand, der ohne Beeinträchtigung lebt, nachempfinden, wie es ist zu lesen, dass die gesetzlichen Ansprüche auf Nachteilsausgleich dem Steuerzahler nicht zuzumuten sind? Damit stellen Behörden das gesamte eigene Leben in Frage. Ich kannte Menschen, die nach solchen Entscheidungen zum Sterben nach Holland oder in die Schweiz gefahren sind. Trotz aller Panik ist das jedoch die falscheste aller Lösungen. Nicht zuletzt deshalb, weil die Behörde dann die Akte schließen kann und das Sparziel damit erreicht ist.

Wir müssen uns endlich bewusst werden, dass die Verfassung auch für Menschen mit Behinderung gilt:

  • “Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.” (Art. 1 Absatz 3 GG)
  • “Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.” (Art. 3 Absatz 3 Satz 2 GG).
  • “Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts binden die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden.” (§ 31 Abs.1 BVerfGG)
  • “Das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG erschöpft sich nicht in der Anordnung, Menschen mit und ohne Behinderung rechtlich gleich zu behandeln. Vielmehr kann eine Benachteiligung auch vorliegen, wenn die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung im Vergleich zu derjenigen nicht behinderter Menschen durch gesetzliche Regelungen verschlechtert wird, die ihnen Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten vorenthalten, welche anderen offenstehen.” (Bundesverfassungsgericht am 10.10.2014 Az.: 1 BvR 856/13 Absatz 5)
  • “Der Teilhabebedarf besteht im Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile; maßgebliche Vergleichsgruppe ist der nichtbehinderte und nicht sozialhilfebedürftige Mensch vergleichbaren Alters.” (Landessozialgericht Baden-Württemberg am 14.04.2016 Az.: L 7 SO 1119/10)

Ein Pochen auf die Verfassung bei jeder Gerichtsverhandlung, die diese verletzt, dürfte sinnvoller sein als Petitionen, die gebündelt den Weg in die Ablage finden. Was hilft eine Petition, wenn das Parlament, das darüber befinden soll, selbst die Verfassung und die Behindertenrechtskonvention nach Gutsherrenart auslegt? Müssen behinderte Menschen es noch hinnehmen, dass ihnen etwas “gewährt” wird? Gewähren ist eine Gnade, die Landes- oder eben Gutsherren ausüben oder nicht. Behinderte Menschen dagegen haben Rechte, die zudem durch Verfassung und das Versprechen an die Vereinten Nationen, dass Menschenrechte in Deutschland nun auch für sie gelten, gestärkt werden. Die Gesetze, richtig gefasst, kosten Geld und das ist richtig so. Ein Staat, der behinderte Menschen in Anstalten abschiebt oder damit droht, der Menschen zwingen will, ihre benötigte Unterstützung mit anderen zu teilen, will Geld sparen. Mit aller Gewalt!

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