Gebärdensprache gehörlose Menschen schwerhörige Menschen

NRW – Be­red­tes Schwei­gen

17.000 Men­schen in NRW sind ge­hör­los, 220.000 hoch­gra­dig schwer­hö­rig. Ge­bär­den­dol­met­scher ver­mit­teln beim Arzt, in der Schu­le oder im Job. Doch im Land gibt es viel zu we­ni­ge. Ron­ja Hol­len­bach ist ei­ne von ih­nen.
VON CLE­MENS BO­IS­SERÉE
©-Fo­to - Cle­mens Bo­is­serée

DÜS­SEL­DORF | Ni­k­las hat nie ein Wort ge­spro­chen und nie ei­nes ge­hört. Der Sechs­jäh­ri­ge ist seit sei­ner Ge­burt ge­hör­los. Auf dem Spiel­platz sei­ner Köl­ner Kin­der­ta­ges­stät­te ist er an die­sem Mon­tag­mor­gen trotz­dem der Chef. Kör­per­spra­che und Ges­tik rei­chen Ni­k­las für ge­wöhn­lich, um in sei­nem letz­ten Ki­ta-Jahr un­ter den Kin­dern den Ton an­zu­ge­ben. Gibt es mal Streit, ist Ron­ja Hol­len­bach zur Stel­le. Die zier­li­che Blon­di­ne tauscht ihr freund­li­ches Lä­cheln ge­gen Ni­k­las’ ver­är­ger­te Gri­mas­se und über­setzt des­sen Ges­ten in ge­spro­che­ne Wor­te – und um­ge­kehrt. Das funk­tio­niert.

Hol­len­bach ist Ge­bär­den­dol­met­sche­rin. Noch vor der Jahr­tau­send­wen­de gab es die­sen Job gar nicht. Den bun­des­weit rund 80.000 Ge­hör­lo­sen war es bis da­to un­ter an­de­rem an Schu­len nicht er­laubt, ei­ne ei­ge­ne Spra­che zu nut­zen. Die Be­trof­fe­nen wa­ren an­ge­hal­ten, Laut­spra­che von Lip­pen ab­zu­le­sen und sich durch ge­schrie­be­ne Wor­te mit­zu­tei­len. Erst 2002 wur­de die Ge­bär­den­spra­che als voll­wer­ti­ge Spra­che in Deutsch­land an­er­kannt. Mitt­ler­wei­le wird die Spra­che im öf­fent­lich-recht­li­chen Fern­se­hen, bei Ver­an­stal­tun­gen, Par­tei­ta­gen oder eben in Kin­der­gär­ten be­nutzt.

75 Eu­ro plus Fahrt­kos­ten und Ge­büh­ren kos­tet ein Dol­met­scher pro Stun­de. Fi­nan­ziert wird ein Groß­teil von den Kom­mu­nen und dem Land­schafts­ver­band Rhein­land (LVR). Der för­dert ge­hör­lo­se Kin­der oder Kin­der, de­ren El­tern ge­hör­los sind. Seit dem Schul­jahr 2014/2015 ha­ben El­tern das Recht, ih­re ge­hör­lo­sen Kin­der an ei­ner Re­gel­schu­le an­zu­mel­den. 2014 nah­men be­reits 56 Pro­zent der vom LVR ge­för­der­ten Kin­der die­se Mög­lich­keit wahr. Seit­her „hat die Zahl der Kin­der mit Un­ter­stüt­zungs­be­darf an all­ge­mei­nen Schu­len stark zu­ge­nom­men“, heißt es beim LVR.

Be­reits seit 2009 ha­ben ge­hör­lo­se Ju­gend­li­che oder Er­wach­se­ne ei­nen ge­setz­li­chen An­spruch auf Dol­met­scher­diens­te: Beim Arzt­be­such, bei Amts­ter­mi­nen oder im Ar­beits­le­ben wer­den die Kos­ten vom Staat über­nom­men. Dol­met­scher sind für die Be­trof­fe­nen dann Stim­me und Ge­hör zu­gleich, auch wenn die Ab­hän­gig­keit nicht nur in ei­ne Rich­tung be­steht. „Vie­le Hö­ren­de ver­ste­hen die Ge­hör­lo­sen nicht, weil die Ge­bär­den­spra­che bis­lang kaum ver­brei­tet ist. Wir sind Kom­mu­ni­ka­ti­ons­hel­fer für bei­de Sei­ten“, sagt Hol­len­bach.

Vor rund ei­nem Jahr nahm sie ih­ren ers­ten Job als Dol­met­sche­rin an. Mit Ge­hör­lo­sen war die Es­se­ne­rin zu­vor kaum in Be­rüh­rung ge­kom­men, zu­nächst hat­te sie ein Eng­lisch- und Fran­zö­sisch-Stu­di­um be­en­det. Ei­ne Be­kann­te er­zähl­te ihr vom Ge­bär­den-Dol­met­schen. „Ich fand die Spra­che in­ter­es­sant und ha­be dann in Ham­burg ein zwei­tes Stu­di­um be­gon­nen.“

Vier Jah­re dau­ert das Stu­di­um, bun­des­weit wird es nur an fünf Hoch­schu­len an­ge­bo­ten. Die Al­ter­na­ti­ve zum Stu­di­um, ei­ne Aus­bil­dung, kann nur an­tre­ten, wer die Spra­che be­reits per­fekt be­herrscht. Als ein­zi­ge Uni in NRW führ­te Köln zum Win­ter­se­mes­ter 2017/2018 ei­nen Ba­che­lor-Stu­di­en­gang ein. Ak­tu­ell sind zwölf Stu­den­ten ein­ge­schrie­ben, der Nu­me­rus Clau­sus liegt bei 1,3.

Ho­he Hür­den für den Ein­stieg in ei­ne noch jun­ge Bran­che, die Nach­wuchs drin­gend be­nö­tigt. „Die Zahl der Auf­trä­ge ist in den letz­ten Jah­ren im­mens ge­stie­gen, so schnell kön­nen neue Leu­te gar nicht aus­ge­bil­det wer­den“, sagt An­drea Knip­ping vom Be­rufs­ver­band der Ge­bär­den­sprach­dol­met­scher. Der zählt für ganz NRW und sei­ne rund 17.000 Ge­hör­lo­sen und rund 220.000 Schwer­hö­ri­gen ak­tu­ell le­dig­lich 134 Mit­glie­der.

Für Mo­ni­ka Ter­beck sind das „viel zu we­ni­ge“. Sie lei­tet ei­ne Be­ra­tungs­stel­le für Ge­hör­lo­se in Wit­ten. „Vie­le Leu­te wen­den sich an uns, um be­hörd­li­che Schrei­ben er­klärt zu be­kom­men oder Arzt­be­su­che zu or­ga­ni­sie­ren. Weil Ge­bär­den­spra­che so lan­ge ver­pönt war, fehlt es da an Kennt­nis“, sagt Ter­beck. Ähn­li­ches be­rich­tet ih­re Ca­ri­tas-Kol­le­gin Kath­rin Klu­ge, die ei­ne Be­ra­tungs­stel­le in Düs­sel­dorf lei­tet. „Hier ha­ben Ge­hör­lo­se et­wa auf dem Woh­nungs­markt kaum ei­ne Chan­ce.“

Fle­xi­bel oder spon­tan sind Dol­met­scher je­doch sel­ten zu be­kom­men. Die Auf­trags­bü­cher sind voll, die War­te­zeit be­trägt oft meh­re­re Ta­ge. Ge­ra­de im länd­li­chen Raum ist der Dol­met­scher-Man­gel teils ekla­tant. Das gibt auch Da­ni­el Nusch zu. Er hat 2013 in Köln die Dol­metsch-Fir­ma „Tri­di­mo“ ge­grün­det. „Wir sind da­mals zu zweit ge­star­tet. Heu­te sind wir elf Dol­met­scher und häu­fig aus­ge­bucht.“ Das Un­ter­neh­men wür­de ger­ne wei­ter ex­pan­die­ren. „Wir wol­len und müs­sen noch grö­ßer wer­den, um un­se­re Diens­te noch fle­xi­bler an­bie­ten zu kön­nen“, sagt Nusch. Auf neue Mit­ar­bei­ter mit gro­ßer Vor­er­fah­rung muss er meist ver­zich­ten, trotz „fai­rem Ge­halt“, Dienst­han­dy und Dienst­wa­gen. Ver­gleich­ba­re Ge­halts­an­ga­ben will kei­ner nen­nen, doch nach An­ga­ben des Be­rufs­ver­bands ma­chen sich rund 90 Pro­zent der Dol­met­scher nach den ers­ten Be­rufs­jah­ren selbst­stän­dig. Das sei in Zei­ten gu­ter Auf­trags­la­ge lu­kra­ti­ver, heißt es. Ron­ja Hol­len­bach hol­te Nusch di­rekt von der Uni ins Team. Ein Kalt­start. Zwar wer­den den Neu­en an­fangs er­fah­re­ne Be­glei­ter zur Sei­te ge­stellt, die Um­stel­lung vom Hör­saal ins hek­ti­sche und an­spruchs­vol­le Be­rufs­le­ben ist den­noch groß.

Am Nach­mit­tag muss Hol­len­bach für Ma­rio Boy ei­ne Be­rufs­schu­lung über­set­zen. Der 24-Jäh­ri­ge ist kauf­män­ni­scher Aus­zu­bil­den­der bei ei­ner Bau­markt­ket­te und hoch­gra­dig schwer­hö­rig. Mit Hil­fe ei­nes Hör­ge­räts ver­steht er sein Ge­gen­über, wenn die­ses lang­sam und deut­lich spricht. „Aber im Ge­wu­sel ei­nes Klas­sen­zim­mers ha­be ich kei­ne Chan­ce, da muss ich mich auf Ron­ja ver­las­sen. Für mich sind Dol­met­scher wich­ti­ge Dienst­leis­ter“, sagt er. Das The­ma Buch­hal­tung steht auf dem Stun­den­plan, Be­grif­fe wie „Wa­ren­ver­bu­chung“ oder „Um­lauf­ver­mö­gen“ las­sen Hol­len­bachs Hän­de ro­tie­ren. Mal muss sie das Wort mit den Fin­gern in Se­kun­den­schnel­le buch­sta­bie­ren, mal die Ge­bär­de für Fach­be­grif­fe wis­sen. „Ich ha­be ei­ni­ge Zeit ge­braucht, um mich si­cher zu füh­len“, sagt sie. Mitt­ler­wei­le über­nimmt sie bis zu fünf sol­che Auf­trä­ge pro Tag.

Denn auch im Aus­land ist der Man­gel an Dol­met­schern ekla­tant: Als das lu­xem­bur­gi­sche Par­la­ment Mit­te Ju­li die deut­sche Ge­bär­den­spra­che an­er­kann­te, wur­de da­für ein Dol­met­scher aus Köln be­stellt. Al­le ei­ge­nen Ge­bär­den­dol­met­scher wa­ren aus­ge­bucht. Al­le bei­de.

 

IN­FO

Ge­hör­lo­sig­keit oder Schwer­hö­rig­keit

An­zahl Laut Schät­zun­gen gibt es al­lein in NRW 17.000 ge­hör­lo­se Men­schen und rund drei Mil­lio­nen Schwer­hö­ri­ge, dar­un­ter rund 220.000 Men­schen mit ei­ner hoch­gra­di­gen Schwer­hö­rig­keit und 50.000 an der Gren­ze zur Taub­heit.

De­fi­ni­ti­on Ge­hör­los ist, wer 120 De­zi­bel (dB) nicht wahr­nimmt, schwer­hö­rig, wem das bei 50 dB – al­so nor­ma­le Ge­sprächs­laut­stär­ke – so geht

Quelle: https://rp-epaper.s4p-iapps.com/wr3/index.html#/801559/2-3

 

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