Pflege

Der Einrichtungsblick dominiert die Pflegedebatte

Der Einrichtungsblick dominiert die Pflegedebatte

Veröffentlicht am  von Ottmar Miles-Paul

Ottmar Miles-Paul
Ottmar Miles-Paul        Bild: Franziska Vu (ISL)

Kassel (kobinet) Wie stark wir in Deutschland immer noch davon geprägt sind, dass diejenigen, die Unterstützung brauchen, in sogenannten Heimen leben, leben müssen, bzw. leben sollten, zeigt sich für kobinet-Redakteur an der aktuellen Debatte um Verbesserungen in der Pflege. Auch der Besuch der Bundeskanzlerin in einem Altenheim in Paderborn habe hier keinen Gegenpol gesetzt, wie kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul in seinem heutigen Kommentar schreibt.

Kommentar von kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul

Ob im Privaten, in der Verwaltung oder in der Politik. Man setzt sich verstärkt für das ein, was einem am nähesten ist, bzw. wozu man einen persönlichen Bezug hat. Also für etwas, das man persönlich kennen gelernt hat, bzw. was einem Nahe geht, einen berührt hat – was einem persönlich wichtig ist. Diese Berührungen, bzw. dieses persönliche Interesse sind häufig gerade für behinderte Menschen eines der zentralen Probleme, denn die Kontakte, über die behinderte Menschen verfügen, sind meist eingeschränkt, bzw. wurden durch die massenhafte Institutionalisierung verringert und professionalisiert. Hinzu kommt, dass das menschenrechtliche Denken beim Thema Behinderung bisher kaum in der Bevölkerung angekommen ist und nach wie vor vom bemitleidenden Blick auf Behinderung dominiert wird. Mir graust es zuweilen vor Diskussionen mit Otto-Normal-Bürgern über das Thema Behinderung, wenn diese wirklich sagen, was sie denken. Veränderung scheint hier eine Schnecke zu sein.

Dies hat zur Folge, dass der Blick derjenigen, die in unserer Gesellschaft etwas zu sagen haben, bzw. zu Wort kommen und entscheiden können, selten vom Blickwinkel behinderter Menschen geprägt ist, die sich für ihre Selbstbestimmung stark machen. Vielmehr wird dieser Blick von anderen Interessen bzw. Überlegungen dominiert, denn man kennt eher jemanden, die oder der in einem Pflegeberuf oder in einer Einrichtung arbeitet. Und die Heimlobby ist ebenfalls gut vernetzt und zeigt enorme Präsenz. Hinzu kommt, dass man das Thema Behinderung oftmals weit von sich schiebt, weil es für viele etwas Bedrohliches hat. Vielleicht sind dies einige Gründe, warum wir in Deutschland so auf Einrichtungen und Aussonderung fixiert sind. Die aktuelle Debatte um die Pflege zeigt eindeutig, dass der Blick auf diejenigen, die pflegen bzw. die Einrichtungen betreiben, wesentlich präsenter ist, als der Blick auf diejenigen, die Assistenz bzw. Unterstützung brauchen und in solchen Einrichtungen leben müssen.

So wird derzeit intensiv über die Gehälter diskutiert, die Pflegekräfte bekommen, bzw. nicht bekommen – und das ist auch gut so. Es wird intensiv über eine bessere Ausbildung von Pflegekräften diskutiert. Es wird über die Finanzierung der Einrichtungen und mehr Pflegekräfte für sogenannte Heime diskutiert. Die Kanzlerin ist nun sogar in ein Altenheim nach Paderborn gereist, um sich ein Bild zu machen und ein Wahlkampfversprechen einem Pfleger gegenüber gerecht zu werden. Doch worüber kaum, bzw. zuweilen gar nicht diskutiert wird, ist wie es den Menschen geht, die Unterstützung brauchen, ob diese überhaupt in sogenannten Heimen leben wollen, wo es meist gar nicht so heimelig ist. Über zwei Jahre hinweg habe ich meine Mutter in einem vermeintlich guten Altenheim in einer kleinen überschaubaren Gemeinde regelmäßig besucht und habe mich immer wieder gefragt, wer hier freiwillig leben würde, wenn es akzeptable Alternativen gäbe. Und genau über diese Alternativen zum Heim wird hierzulande auch in der aktuellen Pflegedebatte so gut wie nicht diskutiert. Dr. Sigrid Arnade von der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) war beim Spitzentreffen der drei mit dem Thema befassten Minister Anfang des Monats als einzige dabei, die selbst Assistenz nutzt und saß erst einmal in der zweiten Reihe. Man kann sich also fragen, welcher Blick hier auf das ganze Thema dominiert?

Über die Deinstitutionalisierung wurde schon sehr viel in Fachpublikationen geschrieben, die EU fördert und fordert diese sogar. Angekommen ist hierzulande davon bisher sehr wenig. Vor allem im Bereich der Politik “für” ältere Menschen ist davon bisher nur sehr wenig angekommen. Für viele scheint es völlig normal zu sein, dass ältere Menschen in ein sogenanntes Pflegeheim gehen. Ist das wirklich normal? Hängt das am Ende dann vom Reichtum der Einzelnen bzw. dem Glück guter ambulanter Angebote ab? Das kann es nicht sein und das gehört meines Erachtens ebenfalls in den Mittelpunkt der derzeitigen Pflegedebatte. Hier kann man viel von denjenigen behinderten Menschen lernen, die schon seit vielen Jahren ihre Assistenz selbst organisieren und sich ihre Selbstbestimmung Stück für Stück erkämpft haben.

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