Teilhabebegutachtung

Diskriminierung im System

Diskriminierung im System

Auf der diesjährigen ICF Anwenderkonferenz in Deutschland wurde ich um einen Beitrag zu meiner Position zur Verwendung der Personbezogenen Faktoren der ICF im Rahmen der Begutachtung zur Genehmigung von Leistungen gebeten (mehr Informationen zur ICF sind auf der Seite ICFEducation.org zu finden). Im Anschluss daran nahm ich auch an einer Podiumsdiskussion zum Thema teil.

In Deutschland gibt es eine lange Tradition der Kur- und Rehabilitationskliniken und Zugang zu dieser Art von Gesundheitsleistungen wird über Anträge geregelt, die einerseits vom behandelnden Arzt unterstüzt bzw. initiiert und dann von begutachtenden Ärzten, meist nach Aktenlage, überprüft werden. Viele Kassenleistungen werden inzwischen ebenfalls von Ärzten des Medizinischen Dienstes begutachtet, bevor eine Bewilligung oder Ablehnung ausgeprochen wird.

Mit der Veröffentlichung der ICF und deren Verankerung in der Gesetzgebung durch das Bundesteilhabegesetz wurde auch in Deutschland der Behinderungsbegriff entsprechend aktualisiert: „Menschen mit Behinderung sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchti- gungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können.“ Dies ist insofern zu begrüßen, da es eine Abkehr von einem Defizitorientierten Denken darstellt, in welchem die “Behinderung” als immanenter Teil der Person im Sinne einer Diagnose oder Krankheit verstanden wurde und damit alle Einschränkungen im Alltag als Folge dieser Erkrankung verstanden wurden. Es ist auch zu begrüßen, dass die individuellen Wünsche und persönlichen Ziele bei der Hilfeplanung und -umsetzung beachtet werden sollen. Dieser Aspekt wird in der ICF der Domäne Personbezogene Faktoren zugeordnet. Bei der Entwicklung der ICF konnte man sich nicht auf eine konkrete Definition der Personbezogenen Faktoren einigen, außer dass dies Aspekte der Person sind, die nicht direkt der Krankheit zugeordnet sind und den persönlichen Lebenshintergrund wie die Herkunft, Religion, Ethnie, oder auch vorangegangene prägende Lebensepisoden darstellen, die es bei jeder Interaktion mit einem Patienten und der Erörterung von Hilfsmaßnahmen zu berücksichtigen gilt. Bedingt durch die soziokulturellen Unterschiede auf der Welt, hat man auf eine weitere Spezifizierung verzichtet.

So weit, so gut. Was wird jetzt im System der Begutachtung vorgeschlagen? Schon seit längerem bemühen sich Vertreter aus dem Medizinischen Dienst und Rehabilitationsforscher die Personbezogenen Faktoren klarer zu definieren, um sie in der Begutachtungspraxis in standardisierter Weise berücksichtigen zu können, im Sinne einer “fairen” Beurteilung. Die unterschiedlichen Vorschläge zu den Personbezogenen Faktoren kann man mit den folgenden Wortwolken darstellen:

Geyh, S.et al. 2011.. https://doi.org/10.3109/09638288.2010.523104
Grotkamp, S. et al. 2012. https://doi.org/10.1017/jrc.2012.4
Heerkens, et al. 2017 https://doi.org/10.3233/WOR-172546
Geyh, S. et al., 2018. https://doi.org/10.1080/09638288.2018.1445302

In diesen Wortwolken werden die vorgeschlagenen Begriffe entsprechend ihrer Häufigkeit unterschiedlich groß dargestellt. Wir finden eine Häufung von Gewohnheiten (habits), den Aspekt der Arbeit (work), persönliche Aspekte (personal) und Verhaltensmuster (pattern). Beispiele für diese Beschreibungen sind z.B. die Einstellung einer Person zur Arbeit, ihre Hygienegewohnheiten, ihre Körperform oder ihr emotionales Alter.

Diese Personbezogenen Faktoren sind wichtig in der direkten Interaktion zwischen Menschen, sind aber irrelevant als Bestandteil einer Begutachtung, da sie eben sehr persönlich sind und sich einer objektiven Beurteilung von außen entziehen. Zur weiteren Ausführung dieser Überlegungen siehe auch: Personbezogene Faktoren und Teilhabe.

Wie können diese Begriffe eine Begutachtung verbessern und gerechter machen? Um zu einem fairen Ergebnis zu kommen, müssen zunächst die Regeln des Grundgesetzes beachtet werden, u.a. “Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden” (Art 3 GG).

Wie wird die ICF in der Teilhabebegutachtung nun umgesetzt? Im Rahmen der Tagung in Hamburg wurde ich auf eine Software zur Teilhabeplanung von Frau Prof. Dr. Petra Gromann aufmerksam gemacht. Sie soll nach Angaben der Autorin auf der ICF als “Weltstandard” basieren und verspricht, sich auf “Lebensziele” anstatt nur auf “Hilfeziele” zu orientieren. Sieht man sich die Screenshots aus einem Vortrag von Frau Prof. Dr. Gromann an, findet man jedoch zum Beispiele Eingabemasken wie diese:

“Fähigkeiten und Beeinträchtigungen durch die chronische Erkrankung/Behinderung (ICF)” lauten die Überschriften. Dieses Verständnis, dass eine Beeinträchtigung durch eine Erkrankung verursacht wird, ist genau das, wogegen sich ein modernes Verständnis von Behinderung richtet. In meinen Augen stellt eine solche Begutachtungspraxis unter dem Deckmantel der ICF ein eklatantes Missverständnis der Grundlagen der ICF bzw. evtl. sogar einen Missbrauch der Systematik dar.

Die Software ermöglicht des weiteren auch die Erfassung von Personbezogenen Faktoren, allerdings noch in Form von Freitext, was die oben angesprochenen Bedenken jedoch nicht mindert. Hinsichtlich der Bestrebungen des MDK ist es wohl nur eine Frage der Zeit ist, bis es auch hierfür Dropdown Menus geben wird aus denen Gutachter ihre Einschätzung zum “emotionalen Alter” des Antragstellers, seiner “Hygienegewohnheiten” und anderen personbezogenen Eigenschaften anklicken können.

Es sieht demnach so aus, also ob es zwar in Deutschland ein recht fortschrittliches Gesetz zur Verbesserung der Teilhabe gibt, die Umsetzung jedoch weiterhin auf einem überholten Verständnis von Behinderung basiert und es leider eine ganze Reihe von Fachleuten und Gutachtern gibt, die es nicht scheuen, Personbezogene Faktoren in die Urteile zur Verbesserung der Teilhabe einfließen zu lassen. Diese Haltung und ihre Konsolidierung in standardisierten Verfahren zur Datenerhebung wird zu einer systematisierten Dikriminierung von Menschen auf Grund ihres persönlichen Hintergrundes und ihres Krankheitszustandes führen.

Vor diesem Hintergrund und der besorgniserregenden Entwicklung sowohl im Bereich der Gesetzgebung (siehe z.B. auch den Vorschlag für das Bayerische Psychiatriegesetz) als auch in der Praxis der Begutachtung mit Entwicklung von Softwarelösungen, die anscheinend kritiklos aus der Forschung in den Alltagsgebrauch übernommen werden, ist dringend eine breitere Diskussion vor allem mit Einbeziehung der Betroffenen angebracht.

Personbezogene Daten gehören in den Schutzraum der persönlichen Beziehung zwischen Patienten/Klienten und der sie betreuenden Fachleute — nicht in einen Begutachtungsalgorithmus.

Einen Kommentar schreiben