“Touch Me Not” – Dieser Film hat seinen Goldenen Bären mehr als verdient

Berlinale Touch Me Not Christian Bayerlein

Berlinale Touch Me Not Christian Bayerlein
Christian Bayerlein ist einer der Darsteller im Film "Touch Me Not",
den die Berlinale-Jury mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet hat.(Foto: AFP)
  • Der rumänische Film “Touch Me Not” hat auf der Berlinale zurecht den Goldenen Bären gewonnen.
  • Anfangs verstört der Film seine Zuschauer – nur, um sie dann umso mehr zu berühren.
  • Den Silbernen Bären erhält Wes Anderson, der mit “Isle of Dogs” den perfekten Kontrast zum amerikanischen Blockbuster-Kino inszeniert.
Von Tobias Kniebe und David Steinitz

Die Jury der Berlinale schickt in diesem Jahr eine starke Botschaft an die Welt. Sie vergibt den Goldenen Bären an “Touch Me Not” und möchte damit ein möglichst großes Kinopublikum in den rumänischen Film von Adina Pintilie locken. Was das bedeutet, erklärt man am besten mit einer frühen Szene dieses Films: In einem klinisch weißen, superhell ausgeleuchteten Raum sieht man einem Workshop zu, bei dem behinderte und nichtbehinderte Menschen lernen sollen, sich zu berühren.

Das Betasten des Gesichts ist angesagt. Die Kamera nähert sich also, in gnadenlos scharfer Digitalauflösung, dem Protagonisten Christian. Dessen Körper ist durch eine spinale Muskelatrophie zu einem winzigen Bündel nutzloser Gliedmaßen geschrumpft. Speichel läuft ihm aus dem Mund, den er nicht schließen kann. Drei sehr steile, angefaulte Zähne ragen heraus. Sein Workshop-Partner spricht für die meisten Betrachter, als er über seine Gefühle reden soll: Er kann kaum hinsehen – und die Aufgabe, dieses Gesicht zu berühren, löst starke Fluchtreflexe in ihm aus.

 

Ein Bärenhauptgewinner, der starke Fluchtreflexe auslöst? Klingt das nicht wieder nach einem Zerrbild brotloser Berlinale-Filmkunst, die am Ende niemand sehen will? Auch die Gesamtbeschreibung des Films macht es nicht unbedingt besser: Mehrere Protagonisten, die alle ihre Probleme mit Intimität und Berührung haben, erkunden in dokumentarisch-realen Konfessionen ihre Ängste und Hemmungen und unperfekten Körper bis in die letzte Pore vor der Kamera.

Jurypräsident Tom Tykwer jedenfalls scheint sich der Herausforderung bewusst zu sein, die in dieser Entscheidung steckt. Er und seine Mitjuroren wollten auch zeigen, wo sich das Kino noch hinbewegen könne, sagte er bei der Preisverleihung am Samstagabend in Berlin. Und das tun sie: Ihre mutige Wahl wird vollkommen nachvollziehbar, wenn man den Fluchtreflexen nicht zu schnell nachgibt.

“Touch Me Not”, der erste Langfilm einer bisher fast unbekannten Regisseurin, schafft es in zwei Stunden, unseren Blick auf den schwerstbehinderten Christian und einige seiner anderen Figuren umzudrehen. Man verlässt das Kino nicht mehr so, wie man hineinging, aber dazu später noch mehr – es gibt ja doch noch andere Preise zu würdigen, die keineswegs alle Herausforderungen sein sollten.

Wes Anderson schafft den perfekten Kontrast zum Blockbuster-Kino

Das zeigt zum Beispiel der Silberne Regie-Bär für den Amerikaner Wes Anderson. Den Preis nahm Bill Murray entgegen, einer seiner Lieblingsschauspieler. Anderson hatte das Festival mit seiner Animationskomödie “Isle of Dogs” eröffnet, in der Murray eine der Hundehauptfiguren spricht. Der Film spielt auf einer Müllinsel im Meer, auf die alle Hunde einer naheliegenden Großstadt verbannt worden sind, weil der böse Bürgermeister sie loswerden will.

Anderson macht daraus eine tragikomische Heldenreise eines Rudels Außenseiter, das sich nicht abschieben lassen will. Er hat den Film in Stop-Motion inszeniert, wo durch sanftes Verändern der modellierten Figuren nach und nach die Illusion von Bewegung erzeugt wird – 160 000 Einzelbilder waren dafür notwendig. Ein enorm zeitaufwendiges Verfahren, das der Logik des modernen US-Kinos zuwiderläuft, wo Blockbuster möglichst schnell heruntergekurbelt werden.

Die Welt hat sich dem Drehbuch angenähert

Beim Treffen kurz nach der Premiere beschrieb Anderson das so: “Heute hat man ja oft das Gefühl, dass Filme ins Kino kommen, bevor sie überhaupt fertig gedreht worden sind. Es fühlt sich manchmal so hektisch und undurchdacht an, als würden noch Szenen eingefügt, während man schon im Kino sitzt.” Dieser Entwicklung wollte er bei “Isle of Dogs” mit seiner geduldigen Arbeitsweise entgegentreten, quasi ein entschleunigtes Hollywoodkino.

Heute kommt es ihm fast ein bisschen unheimlich vor, wie sich die Welt in der vierjährigen Arbeit am Film seinem Drehbuch angenähert hat. Als er am Skript saß, habe “drüben in Washington, DC” noch keiner über Mauern schwadroniert. Aber plötzlich war aus seiner kleinen Underdog-Satire auch ein politischer Kommentar geworden, was der Jury die Preisentscheidung vermutlich noch etwas leichter gemacht hat.