TV-„Wahlarena“ mit Merkel
Kölnerin mit Down-Syndrom bekommt viel Applaus
Lübeck. Die Fernsehsender überschlagen sich derzeit mit den unterschiedlichsten Formaten zur Bundestagswahl am 24. September. Rund 150 Wähler hatten am Montagabend in der ARD-„Wahlarena“ die Chance, der Bundeskanzlerin persönlich Fragen zu stellen. „Bekomme ich noch Rente?“ war zum Beispiel eine von ihnen, oder auch, warum die Würde des Menschen in Pflegeeinrichtungen tausendfach verletzt werden würde.
Auch eine junge Kölnerin meldete sich. Sie ist 18 Jahre alt und Erstwählerin. Und sie hat das Down-Syndrom. „Frau Merkel, Sie sind Politikerin. Sie machen Gesetze. Ich bin Redakteurin bei einem Magazin für Menschen mit Down-Syndrom, so wie ich es habe“, erklärt sie. Sie arbeitet zudem in dem von der Caritas betriebenen Café „Querbeet” in Köln.
„Neun von zehn Babys mit Down-Syndrom werden in Deutschland nicht geboren, sie werden abgetrieben. Ein Baby mit Down-Syndrom darf bis wenige Tage vor der Geburt abgetrieben werden, das nennt man Spätabbruch. Meine Kollegen und ich fragen Sie, Frau Merkel: Wie stehen Sie zum Thema Spätabbruch? Wieso darf man Babys mit Down-Syndrom bis kurz vor der Geburt abtreiben?“
„Ich will nicht abgetrieben werden”
Sie fände es politisch nicht gut, erklärt die Kölnerin, gerade weil ihr dieses Thema so wichtig sei. „Ich will nicht abgetrieben werden, sondern auf der Welt bleiben!“
Großer Applaus im Publikum. Auch die Bundeskanzlerin muss zunächst schlucken, bevor sie antwortet.
Sie findet es toll, dass sie diese Frage stellt, erklärt Merkel. Und dass es heutzutage wunderbar sei, wie gut Behinderte in der Bundesrepublik gefördert werden könnten, ganz anders als in der DDR etwa, ihrer alten Heimat. Dort sei sie auf einem Gelände aufgewachsen, wo geistig behinderte Kinder lebten.
„Es steckt viel in jedem Menschen”
„Viele Eltern haben wahrscheinlich Angst davor, ein Kind mit Behinderungen aufzuziehen“, sagt Merkel. Sie verweist darauf, dass die Union eine verpflichtende Beratung bei Spätabtreibungen eingeführt hat.
„Es steckt so viel an Fähigkeiten und Möglichkeiten in jedem Menschen“ sagte Merkel, an die junge Frau gewandt. Deshalb sei es gut, dass sie sich so deutlich zu Wort melde. „Wenn man sieht, was für ein toller Mensch Sie sind, dann kann ich nur sagen, dass es richtig ist, darüber nochmal nachzudenken.“
Was Merkel konkret in Zukunft tun will, sagte sie allerdings nicht. (mg)
– Quelle: http://www.ksta.de/28395320 ©2017
Unser Abtreibungswahn
Wird eine Behinderung pränatal diagnostiziert, entscheidet sich eine überwältigende Mehrheit für eine Abtreibung. Warum haben wir so große Angst vor behinderten Menschen?
Von Denise Linke
24. September 2014, 13:41 Uhr248 Kommentare
Viele Behinderungen kann der Ultraschall nicht zeigen. Die psänatale Diagnostik ist viel weiter. ©-Foto-dpa
Am vergangenen Samstag demonstrierten über fünftausend Menschen beim sogenannten Marsch für das Leben gegen Abtreibung. Ende August trat der Biologe Richard Dawkins eine Social-Media-Lawine los, weil er twitterte, es sei unmoralisch, einen Fötus mit Down-Syndrom nicht abzutreiben. Und eine junge Amerikanerin gerät in den Fokus der Öffentlichkeit, weil sie eine Abtreibung per Crowdfunding finanzieren will.
Abtreibung ist ein heikles Thema. Und es ist überall. In der Politik, in den Medien, am Stammtisch, im Gottesdienst. Die pro-life-Fraktion (Abtreibungsgegner) steht der pro-choice-Fraktion (Abtreibungsbefürworter) gegenüber – auf der einen Seite finden sich viele Christen, auf den anderen viele Feministinnen. Und in der breiten Mitte tummeln sich die „Abtreibung ja, aber nur, wenn“-Leute.
Ich gehöre, wie eigentlich immer, zur „Ja, aber“-Gruppe. Niemand möchte, dass eine Mutter durch eine Schwangerschaft ihr eigenes Leben gefährdet. Dieser Standpunkt ist selbst bei Tea-Party-Amerikanern unumstritten. Und (fast) niemand möchte eine Frau zwingen, ein Kind zu bekommen, das durch eine Vergewaltigung gezeugt wurde.
Und ich gehe noch ein bisschen weiter. Wenn eine Frau merkt, dass sie schwanger ist, und der Zeitpunkt der denkbar falscheste ist, dann sollte sie, meiner Meinung nach, innerhalb der ersten Wochen der Schwangerschaft abtreiben dürfen. Das Zellhäufchen spürt nichts. Dinge passieren.
Abtreibung bis zur Geburt legal
Kritisch wird es für mich in dem Moment, in dem aus dem Zellhäufchen ein Fötus geworden ist, also mit Beginn des zweiten Trimesters. Und in dem Moment, in dem die Mutter abtreibt, weil die pränatale Diagnostik ergibt, ihr Kind könnte eine Behinderung haben. Wenn die Ärzte eine Behinderung feststellen, kann sogar nach der 22. Schwangerschaftswoche abgetrieben werden. Das ist im fünften Monat. Das Kind kann dann fühlen, es kann die Augen öffnen, es übt schlucken und atmen. Ab der 24. Woche könnte es, mit Hilfe von Ärzten, auch außerhalb des Mutterleibes überleben. Ein Abbruch der Schwangerschaft ist trotzdem bis zur Geburt legal, sofern die körperliche oder seelische Gesundheit der Mutter in Gefahr ist. In der Praxis heißt es, dass ein Kind mit Behinderung abgetrieben werden darf, sofern es die körperliche oder seelische Gesundheit der Mutter gefährdet. Egal, ob im zweiten, im fünften oder im neunten Monat.
Und Spätabtreibungen nehmen weiter zu. Das statistische Bundesamt gibt an, dass es 2006 in Deutschland 183 Spätabtreibungen gab. Bis 2013 gab es eine Steigerung von 307,1 Prozent. Insgesamt wurden 3.703 Abtreibungen medizinisch begründet – also mit der Gesundheit der Mutter. Dabei ist es egal, ob es sich um die sehr greifbare körperliche Gesundheit oder eine psychische Belastung handelt.
Die Zahlen sprechen für sich. Nach der Down-Syndrom Diagnose brechen 90 Prozent der Frauen die Schwangerschaft ab. Ich weiß nicht, ob Sie Menschen mit Down-Syndrom kennen. Ich schon, und keiner von ihnen hat jemals gesagt: „Ich wünschte, ich wäre abgetrieben worden.“ Tatsächlich sind die Betroffenen häufig außerordentlich fröhliche Menschen. Sie lachen, sie weinen. Sie arbeiten und haben Beziehungen. Natürlich tun das nicht alle. Aber auch nicht alle Menschen ohne Behinderung haben Jobs oder Familien. Ist deren Leben auch nicht lebenswert? Gibt es dafür eine Formel? Ein Utilitarismus-Handbuch? Niemand kann vorhersagen, wie lebenswert dieses Leben sein wird. Niemand sollte sich anmaßen, überhaupt darüber zu urteilen, wie lebenswert das Leben eines anderen Menschen sein wird, war oder ist.